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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Samstagnachmittag im Januar oder Februar. Der Teich in dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist, hat sich mit Eis überzogen, und der junge Mr.   Blank, den man damals mit Master Blank ansprach, läuft dort Schlittschuh, Hand in Hand mit seiner ersten Liebe, einem Mädchen mit grünen Augen und rötlich braunem Haar, langem, rötlich braunem, vom Wind zerzaustem Haar, die Wangen von der Kälte gerötet; ihren Namen hat er längst vergessen, aber mit
S
hat er angefangen, denkt Mr.   Blank, da ist er sich sicher, vielleicht war es Susie, denkt er, oder Samantha, Sally oder Serena, aber nein, keiner davon, und es spielt auch keine Rolle, denn da es das erste Mal war, dass er einem Mädchen die Hand gehalten hatte, erinnert er sich jetzt besonders deutlich an das Gefühl, in eine neue Welt getreten zu sein, eine Welt, in der die Hand eines Mädchens zu halten ein erstrebenswerteres Gut war als alles andere, und so sehr war Master Blank für dieses junge Geschöpf entflammt, dessen Name mit dem Buchstaben
S
begann, dass er, als sie aufhörten, Schlittschuh zu laufen, und sich auf einen Baumstumpf am Ufer des Teiches niederließen, die Kühnheit besaß, sich nach vorn zu beugen und sie auf die Lippen zu küssen. Aus Gründen, die ihn damals zugleich verwirrten und kränkten,lachte Miss S. laut auf, wandte den Kopf ab und tadelte ihn mit einem Satz, der ihn sein Leben lang begleitet hat – selbst jetzt, in seinen erbärmlichen gegenwärtigen Umständen, wo es in seinem Kopf nicht ganz richtig zugeht und ihm so viele andere Dinge entschwunden sind: Sei nicht albern. Denn der Gegenstand seiner Zärtlichkeiten verstand nichts von solchen Dingen, war sie doch erst zehn oder elf Jahre alt und noch nicht so weit gereift, dass amouröse Avancen von einem Mitglied des anderen Geschlechts irgendeine Bedeutung für sie haben konnten. Und statt also Master Blanks Kuss mit einem eigenen Kuss zu erwidern, lachte sie auf.
    Der Tadel klang tagelang nach und schmerzte ihn im Innersten so sehr, dass seine Mutter, der das finstere Gebaren ihres Sohnes auffiel, ihn eines Morgens fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. Mr.   Blank war damals noch jung genug, sich bedenkenlos seiner Mutter anzuvertrauen, und erzählte ihr daher die ganze Geschichte. Worauf sie erwiderte: Keine Sorge; es gibt noch andere Kiesel am Strand. Es war das erste Mal, dass Mr.   Blank diese Redensart hörte, und er fand es eigenartig, dass da Mädchen mit Kieseln verglichen wurden, denen sie doch seiner Ansicht nach überhaupt nicht ähnelten, jedenfalls hatte er noch nichts dergleichen bemerkt. Gleichwohl verstand er die Metapher und was seine Mutter ihm damit sagen wollte, war aber trotzdem nicht ihrer Meinung, da Leidenschaft heute und immerdar blind ist für alles bis auf das Eine, undwas Mr.   Blank betraf, so zählte für ihn nur ein einziger Kiesel am Strand, und wenn er diesen einen nicht haben konnte, bedeuteten ihm die anderen nichts. Natürlich änderte sich das mit der Zeit, und im Lauf der Jahre lernte er einzusehen, wie klug jene Bemerkung seiner Mutter gewesen war. Während er jetzt auf seinen weißen Nylonsocken in dem Raum umhergleitet, fragt er sich, wie viele Kiesel es seitdem gewesen sein mögen. Mr.   Blank kann sich nicht sicher sein, da sein Gedächtnis ihn auch hierbei im Stich lässt, aber er weiß, es sind Dutzende, vielleicht sogar Hunderte – wahrscheinlich mehr Kiesel in seiner Vergangenheit, als er zählen kann, einschließlich Anna, die er vor so vielen Jahren verloren und erst heute am endlosen Strand der Liebe wiedergefunden hat.
    Diese Gedanken sausen Mr.   Blank binnen weniger Sekunden, vielleicht zwölf, vielleicht zwanzig, durch den Kopf, wobei er, während die Vergangenheit in ihm aufsteigt, sich zusätzlich sehr darauf konzentrieren muss, bei seinem Umhergleiten nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. So wenige Sekunden es auch sein mögen, es kommt dennoch ein Augenblick, wo die vergangenen Tage die Gegenwart einholen, und statt weiter gleichzeitig zu denken und sich zu bewegen, vergisst Mr.   Blank, dass er sich bewegt, und konzentriert sich ausschließlich auf seine Gedanken, und unmittelbar darauf, vielleicht keine Sekunde, höchstens zwei Sekunden später, rutscht er aus und stürzt zu Boden.
    Zum Glück landet er nicht auf dem Kopf, in jeder anderen Hinsicht jedoch ist der Fall ein böses Unglück. Rücklings ins Leere taumelnd, während seine bestrumpften Füße auf den glatten Holzdielen Halt zu finden suchen, stößt

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