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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Tochter, befragte ich zahllose Ärzte, Krankenschwestern und Freiwillige, die in den Notkliniken und Schulen gearbeitet hatten, in denen die Kranken und Sterbenden versorgt worden waren, doch unter all den Hunderten von Leuten, denen ich die Bilder zeigte, fand sich niemand, der die Gesichter wiedererkannt hätte. Am Ende blieb nur eine einzige Schlussfolgerung übrig. Meine Lieben waren von der Seuche hinweggerafft worden. Zusammen mit Tausenden anderer Opfer lagen sie in einem der Massengräber auf dem Viaticum Bluff, dem Bestattungsgelände für die namenlosen Toten.
    Ich erwähne diese Dinge nicht, um Mitgefühl zu heischen. Niemand braucht Mitleid mit mir zu haben, und niemand braucht die Fehler zu entschuldigen, die ich im Gefolge dieser Ereignisse begangen habe. Ich bin ein Mann, kein Engel, und wenn mir auch die Trauer, die mich überwältigte, gelegentlich die Sinne trübte und mich zu gewissen Fehltritten verleitete, sollte dies keinesfalls Anlass zu Zweifeln an der Wahrheit meiner Geschichte geben. Bevor irgendjemand auf die Idee kommt, mich durch Hinweis auf diese Flecken auf meiner Vergangenheit diskreditieren zu wollen, trete ich aus freien Stücken nach vorn und bekenne mich offen und vor aller Welt schuldig. Wir leben in tückischen Zeiten, und ich weiß, wie leicht sich die Wahrnehmung durch ein einziges Wort, das ins falsche Ohr gelangt, verzerren lässt. Man zweifle den Charakter eines Mannes an, und schon wird alles, was dieser Mann tut, falsch, verdächtig und unaufrichtig erscheinen. Schmerz, nicht Bosheit, war die Ursache für das, was ich mir zuschulden kommen ließ: Verwirrung, nicht Verschlagenheit. Ich verlor die Orientierung und suchte monatelang Trost und Vergessen im Alkohol. An den meisten Abenden trank ich allein in der Dunkelheit meines leeren Hauses, jedoch waren manche Abende schlimmer als andere. In solchen bösen Stunden wandten sich meine eigenen Gedanken gegen mich, und ich glaubte an meinem Atem zu ersticken. Mein Kopf füllte sich mit Bildern von meiner Frau und meiner Tochter, und immer wieder sah ich, wieihre schlammbeschmierten Körper in die Grube geworfen wurden, immer wieder sah ich ihre nackten Glieder verschlungen mit den Gliedern anderer Leichen im Erdboden liegen, und wenn mir die Dunkelheit im Haus dann unerträglich wurde, wagte ich mich hinaus in der Hoffnung, der Lärm und Tumult der Schenken könne den Bann dieser Bilder brechen. Ich besuchte Kneipen und Bierhäuser, und in einem dieser Lokale fügte ich mir und meinem Ruf den größten Schaden zu. Der Vorfall ereignete sich an einem Freitagabend im November, als in der Auberge des Vents ein Mann namens Giles McNaughton einen Streit mit mir vom Zaun brach. McNaughton behauptete, ich hätte ihn zuerst attackiert, aber elf Zeugen sagten vor Gericht etwas anderes aus, und ich wurde in allen Punkten der Anklage freigesprochen. Das war aber nur ein kleiner Triumph, denn am Ende blieb doch die Tatsache, dass ich dem Mann einen Arm gebrochen und die Nase eingeschlagen hatte, und mit einer solchen Heftigkeit hätte ich niemals reagiert, wenn der Alkohol mich nicht schon so sehr in die Tiefe gerissen hätte. Die Geschworenen erklärten mich für unschuldig, weil ich in begründeter Notwehr gehandelt habe, aber damit war das Stigma des Prozesses selbst nicht beseitigt – und auch nicht der Skandal, der ausbrach, als sich herausstellte, dass ein hochrangiger Mitarbeiter des Büros für Innere Angelegenheiten an einer blutigen Kneipenschlägerei beteiligt gewesen war. Schon wenige Stunden nach der Urteilsverkündung kamenGerüchte in Umlauf, Beamte des Büros hätten gewisse Mitglieder der Jury bestochen, zu meinem Vorteil zu urteilen. Mir selbst ist von solchen unlauteren Aktionen zu meinen Gunsten nichts bekannt, und ich neige dazu, diese Vorwürfe als bloßes Geschwätz abzutun. Sicher weiß ich jedoch, dass ich McNaughton vor diesem Abend noch nie gesehen hatte. Andererseits wusste er immerhin so viel von mir, dass er mich bei meinem Namen anredete, und als er zu mir an den Tisch trat, von meiner Frau zu sprechen anfing und andeutete, er sei im Besitz von Informationen, die mir helfen könnten, das Rätsel ihres Verschwindens zu lösen, versuchte ich ihn gleich fortzuschicken. Der Mann war auf Geld aus, und ein einziger Blick in sein fleckiges, ungesundes Gesicht überzeugte mich davon, dass er ein Schwindler war, ein Opportunist, der von meiner Tragödie Wind bekommen hatte und daraus Profit zu schlagen beabsichtigte.

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