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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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immer verwehrt, in die weite Welt hinauszugehen. Dieser Gedanke macht ihm ein wenig Mut, auch wenn er weiß: dass er den Park besuchen darf, beweist nicht notwendig, dass er frei ist. Vielleicht sind solche Besuche nur unter strenger Aufsicht möglich, und sobald er eine wohltuende Dosis Sonnenlicht und frische Luft genossen hat, wird er in den Raum zurückgeführt und weiter gegen seinen Willen gefangen gehalten. Er bedauert, dass er nicht die Geistesgegenwart besessen hat, Flood nach dem Park zu fragen – um herauszufinden, ob es sich zum Beispiel um einen öffentlichen Park handelt oder bloß um irgendein mit Bäumen oder Gras bewachsenes Gelände, das zu dem Gebäude, der Anstalt oder dem Heim gehört, wo er jetzt lebt. Wichtiger noch, zum zigsten Mal an diesem Tag geht ihm auf, dass alles auf das Wesen der Tür hinausläuft – und ob sie von außen abgeschlossen ist oder nicht. Er schließt die Augen und versucht sich an die Geräusche zu erinnern, die er gehört hat, nachdem Flood den Raum verlassen hat. War es das Geräusch eines Riegels, der vorgeschoben wurde, das Geräusch eines Schlüssels, der in einem Zylinderschloss umgedreht wurde, oder einfach das Klicken einer Klinke? Mr.   Blank kann sich nicht erinnern.Als das Gespräch mit Flood zu Ende ging, hatte dieser unangenehme kleine Mann mit seinen wimmernd vorgetragenen Vorwürfen ihn so sehr aufgebracht, dass er zu abgelenkt gewesen war, auf solche Nebensächlichkeiten wie Schlösser, Riegel oder Türen zu achten.
    Mr.   Blank fragt sich, ob es nicht an der Zeit sei, die Angelegenheit nun endlich selbst zu untersuchen. So sehr er auch das Ergebnis fürchten mag: Wäre es nicht besser, ein für allemal die Wahrheit zu erfahren, statt in diesem Zustand anhaltender Ungewissheit zu leben? Vielleicht, sagt er sich. Vielleicht aber auch nicht. Bevor er zu einer Entscheidung gelangt, ob er den Mut aufbringen kann, sich endlich zu dieser Tür zu begeben, verschafft sich unvermittelt ein neues und dringenderes Problem Geltung – etwas, das man ganz genau genommen ein
dringendes Bedürfnis
nennen könnte. Wieder hat sich in Mr.   Blanks Leib ein Druck aufgebaut. Anders als im früheren Fall, der sich in der Gegend des Oberbauchs zugetragen hatte, spürt er den Druck nun wesentlich tiefer, im südlichsten Teil seines Unterleibs. Aus langer Erfahrung in solchen Dingen begreift der alte Mann, dass er pinkeln muss. Er überlegt, ob er den Weg zum Bad auf dem Stuhl zurücklegen soll, aber da er weiß, dass der Stuhl nicht durch die Badezimmertür passt, und da er des Weiteren weiß, dass er nicht auf dem Stuhl sitzend pinkeln kann, dass er auf jeden Fall einmal wird aufstehen müssen (wenn auch nur, um sich gleich auf die Toilette zu setzen, falls ihmwieder schwindlig wird), beschließt er, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Also erhebt er sich von dem Stuhl, und dabei stellt er zu seiner Freude fest, dass er nicht aus dem Gleichgewicht gerät und nichts von dem Schwindel empfindet, der ihn vorhin geplagt hat. Allerdings hat Mr.   Blank vergessen, dass er die weißen Tennisschuhe nicht mehr trägt, ganz zu schweigen davon, dass er die schwarzen Pantoffeln nicht mehr trägt und nichts mehr an den Füßen hat als die weißen Nylonsocken. Weil das Material dieser Socken außerordentlich dünn ist und der Holzfußboden außerordentlich glatt, macht Mr.   Blank nach dem ersten Schritt die Entdeckung, dass er sich gleitend voranbewegen kann – nicht scharrend und schlurfend wie in den Pantoffeln, sondern wie auf Schlittschuhen.
    Eine neue Form von Vergnügen ist ihm zugefallen, und nachdem er zwei- oder dreimal versuchsweise zwischen Schreibtisch und Bett hin- und hergeschlittert ist, findet er das nicht weniger angenehm als das Schaukeln und Kreisen auf dem Stuhl – vielleicht sogar noch besser. Der Druck auf seine Blase nimmt zu, aber Mr.   Blank schiebt den Gang ins Bad hinaus, um noch ein wenig länger auf dem imaginären Eis herumzugleiten, und während er durch den Raum schlittert, erst den einen Fuß in die Luft hebt, dann den anderen, oder mit beiden Füßen über den Boden gleitet, kehrt er abermals in die ferne Vergangenheit zurück, nicht so weit zurück wie in die Zeit von Schaukelpferd Whitey oder die Morgen,wenn seine Mutter sich zu ihm aufs Bett setzte, ihn auf den Schoß nahm und anzog, aber dennoch sehr weit zurück: Mr.   Blank als größerer kleiner Junge, etwa zehn Jahre alt, vielleicht elf, aber ganz bestimmt noch nicht zwölf. Es ist ein kalter

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