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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Anschließend machte ich einen Spaziergang den Santa Victoria Boulevard hinunter zum Fluss, um zu sehen, ob ich dort vielleicht eine Brise frische Luft ins Gesicht bekommen konnte. Ich sah Kinder ihre Spielzeugboote zu Wasser lassen, verschämt lächelnde Frauen mit gelben Sonnenschirmen in Gruppen zu dritt und viert umherwandeln, junge Männer im Gras faulenzen. Ich habe den Sommer in der Hauptstadt immer geliebt. In dieser Jahreszeit herrscht dort eine Stille, die uns alle einhüllt, eine Art Trancezustand, der den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Dingen aufzuheben scheint, und wenn die Scharen sich auf den Straßen weniger zahlreich drängen, wird die Hektik der anderen Jahreszeiten beinahe unvorstellbar. Vielleicht liegt es daran, dass der Protektor und seine Familie die Stadt dann verlassen haben und dass, wenn der Palast leer steht und blaue Läden vor den vertrauten Fenstern sind, die Realität der Konföderation weniger greifbar erscheint. Man ist sich der großen Entfernungen bewusst, der endlosen Territorien und unzähligen Menschen, des Chaos und Lärmsall dieses vielfältigen Lebens – aber das alles existiert in einigem Abstand, als sei die Konföderation zu etwas Inwendigem geworden, zu einem Traum, den jeder Einzelne in sich selbst herumträgt.
    Nachdem ich ins Büro zurückgekehrt war, arbeitete ich bis vier Uhr durch. Ich hatte gerade den Stift hingelegt, um über die abschließenden Absätze nachzudenken, als der Sekretär des Ministers – ein junger Mann namens Jensen oder Johnson, ich kann mich nicht mehr genau erinnern – bei mir eintrat und mich unterbrach. Er reichte mir einen Brief und wandte, während ich ihn las, diskret den Blick ab; offenbar wartete er auf eine Antwort, die er dem Minister überbringen sollte. Die Mitteilung war sehr kurz.
Wäre es Ihnen möglich, heute Abend bei mir zu Hause vorbeizukommen? Ich bitte diese kurzfristige Einladung zu entschuldigen, aber ich habe eine sehr wichtige Sache mit Ihnen zu besprechen. Joubert.
    Für die Antwort nahm ich einen amtlichen Briefbogen; ich dankte dem Minister für die Einladung und teilte mit, er könne mich um acht Uhr erwarten. Als der rothaarige Sekretär mit dem Brief abgezogen war, blieb ich minutenlang am Schreibtisch sitzen und zerbrach mir den Kopf darüber, was das zu bedeuten haben mochte. Joubert war drei Monate zuvor als Minister eingesetzt worden, und in dieser Zeit hatte ich ihn nur ein einziges Mal gesehen – bei einem offiziellen Bankett des Büros zur Feier seiner Ernennung. Unter normalen Umständen hätte ein Mann in meiner Position nur wenigdirekten Kontakt mit dem Minister, und daher kam es mir seltsam vor, von ihm nach Hause eingeladen zu werden, zumal so kurzfristig. Nach allem, was ich bis dahin von ihm wusste, neigte er weder zu impulsivem noch zu großspurigem Gebaren und auch nicht dazu, seine Macht willkürlich oder übermäßig zur Schau zu stellen. Ich bezweifelte, dass er mich zu diesem privaten Treffen bestellt hatte, weil er Kritik an meiner Arbeit üben wollte, gleichzeitig aber sagte mir die Dringlichkeit seiner Nachricht, dass es um mehr ging als bloß ein geselliges Beisammensein.
    Für jemanden, der eine so hohe Stellung erreicht hatte, war Joubert keine sehr beeindruckende Erscheinung. Er stand kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, ein kleiner, gedrungener Mann, stark kurzsichtig und mit einem Kneifer im Gesicht, den er während unseres Gesprächs unablässig durch Rümpfen seiner Knollenase zurechtrücken musste. Ein Dienstbote führte mich durch den Hauptkorridor zu einer kleinen Bibliothek im Erdgeschoss der Residenz des Ministers, und als Joubert – bekleidet mit einem altmodischen braunen Gehrock und weißem Rüschenhalstuch – sich erhob, um mich willkommen zu heißen, hatte ich das Gefühl, eher einem juristischen Sachbearbeiter als einem der wichtigsten Männer der Konföderation die Hand zu schütteln. Als wir dann ins Gespräch kamen, legte sich diese Täuschung schnell. Er besaß einen klaren, wachsamen Verstand und sprach jeden seiner Sätze mit Autoritätund Überzeugung. Nachdem er sich entschuldigt hatte, mich zu einem so ungünstigen Zeitpunkt zu sich nach Hause gerufen zu haben, wies er auf einen vergoldeten Ledersessel auf der anderen Seite seines Schreibtischs, und ich nahm Platz.
    – Ich nehme an, Sie haben von Ernesto Land gehört, sagte er, ohne sich unnötig mit weiteren Formalitäten aufzuhalten.
    – Er war einer meiner besten Freunde, antwortete ich.

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