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Reisen im Skriptorium

Reisen im Skriptorium

Titel: Reisen im Skriptorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wir haben zusammen im Krieg an der Südostgrenze gekämpft und dann als Kollegen in derselben Abteilung des Nachrichtendienstes gearbeitet. Nach dem Fusionsvertrag vom vierten März machte er mich mit einer Frau bekannt, die ich schließlich heiratete – meine inzwischen verstorbene Frau Beatrice. Ein Mann von außerordentlichem Mut und Können. Sein Tod während der Choleraepidemie war ein großer Verlust für mich.
    – Das ist die offizielle Darstellung. Eine Todesurkunde wurde im Stadtarchiv zu den Akten genommen, aber nun ist Lands Name in letzter Zeit mehrmals wiederaufgetaucht. Wenn diese Berichte stimmen, muss er noch am Leben sein.
    – Das sind wunderbare Neuigkeiten, Sir. Das macht mich sehr froh.
    – Seit einigen Monaten dringen Gerüchte von der Garnison bei Ultima zu uns durch. Bestätigt ist nichts davon, aber diesen Geschichten zufolge hat Land einige Zeit nach dem Ende der Choleraepidemie dieGrenze zu den Fremden Territorien überschritten. Die Reise von der Hauptstadt nach Ultima nimmt drei Wochen in Anspruch. Das würde bedeuten, dass Land sich kurz nach Ausbruch der Seuche auf den Weg gemacht hätte. Demnach wäre er nicht tot – sondern lediglich verschollen.
    – Die Fremden Territorien sind Sperrgebiet. Das weiß jeder. Der Erlass zur Errichtung der Sperrzone ist jetzt seit zehn Jahren in Kraft.
    – Trotzdem. Land ist dort. Wenn die Berichte unserer Nachrichtendienste zutreffen, ist er mit einer Armee von über hundert Männern gereist.
    – Ich verstehe das nicht.
    – Wir nehmen an, er schürt Unzufriedenheit unter den Primitiven und bereitet sich darauf vor, sie in einen Aufstand gegen die Westprovinzen zu führen.
    – Das ist unmöglich.
    – Nichts ist unmöglich, Graf. Gerade Sie sollten das wissen.
    – Niemand glaubt leidenschaftlicher an die Prinzipien der Konföderation als er. Ernesto Land ist ein Patriot.
    – Bisweilen ändert ein Mann seine Ansichten.
    – Sie müssen sich irren. Ein Aufstand ist nicht möglich. Militärisches Vorgehen würde Einheit unter den Primitiven voraussetzen, und die hat es nie gegeben und wird es niemals geben. Sie sind so vielfältig und uneins wie wir selbst. Ihre gesellschaftlichen Bräuche,ihre Sprachen und ihre religiösen Überzeugungen sorgen dafür, dass sie seit Jahrhunderten zerstritten sind. Die Tackamen im Osten begraben ihre Toten genau wie wir. Die Gangi im Westen legen ihre Toten auf hohe Gerüste und lassen die Leichen in der Sonne verwesen. Die Krähenleute im Süden verbrennen ihre Toten. Die Vahntoo im Norden kochen die Leichen und verzehren sie. Für uns ist das ein Verstoß gegen Gottes Gebote, für sie aber ist es ein heiliges Ritual. Jede Nation ist in Stämme gespalten, die wiederum in noch kleinere Clans gespalten sind, und nicht nur haben alle diese Nationen zu verschiedenen Zeiten in der Vergangenheit miteinander Krieg geführt, sondern es haben sich auch die Stämme innerhalb der Nationen gegenseitig bekämpft. Für mich ist es schlichtweg ausgeschlossen, dass sie sich vereinigen, Sir. Wären sie zu vereintem Vorgehen fähig, hätten wir sie überhaupt niemals unterwerfen können.
    – Wie ich höre, kennen Sie sich in den Territorien recht gut aus.
    – Ich habe in meiner Anfangszeit beim Büro über ein Jahr bei den Primitiven verbracht. Das war natürlich noch vor dem Sperrzonen-Erlass. Ich bin von Clan zu Clan gezogen und habe mich mit den Funktionsprinzipien dieser Gesellschaften und allen möglichen anderen Dingen beschäftigt, von Diätvorschriften bis zu Paarungsritualen. Das war eine denkwürdige Erfahrung. Auch später hat meine Arbeit mich immer sehr interessiert,aber jenen Auftrag halte ich für den faszinierendsten meiner Karriere.
    – Früher hat ihnen alles gehört. Dann kamen die Schiffe und brachten Siedler aus Iberia und Gaul, aus Albion, Germania und den tartarischen Königreichen, und nach und nach wurden die Primitiven von ihrem Land vertrieben. Wir haben sie abgeschlachtet und versklavt und in den dürren, unfruchtbaren Territorien jenseits der Westprovinzen zusammengetrieben. Auf Ihren Reisen müssen Sie sehr viel Verbitterung und Groll zu spüren bekommen haben.
    – Weniger als man meinen sollte. Nach vierhundert Jahren Auseinandersetzungen waren die meisten Nationen froh, in Frieden leben zu können.
    – Das ist über zehn Jahre her. Vielleicht haben sie ihre Einstellung inzwischen geändert. Ich an ihrer Stelle wäre sehr in Versuchung, die Westprovinzen zurückzuerobern. Das Land dort ist

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