Reizende Gäste: Roman (German Edition)
Abend gegessen hatten und Emily oben im Bett gelegen hatte.
Wie töricht von ihr. Natürlich hätte nicht alles ewig so weitergehen können. Zum einen war Antony fast erwachsen. Nicht mehr lange, und er würde mit der Schule fertig sein und zu studieren beginnen. Erwartete sie etwa, daß sie dann noch weiter in »The Maples« wohnen bliebe? Nur sie und Richard? Sie hatte keine Ahnung, was Richard von ihr hielt. Sah er in ihr mehr als Emilys Schwester? Betrachtete er sie als Freundin? Als Teil der Familie? Oder erwartete er, daß sie ging, nun, da Emily tot war? Sie hätte es nicht sagen können. In all den Jahren, in denen sie in seinem Haus gewohnt hatte, hatte sie selten direkt mit Richard gesprochen. Wenn überhaupt, dann hatten sie über Emily miteinander kommuniziert. Und nun, da es Emily nicht mehr gab, kommunizierten sie überhaupt nicht mehr miteinander. In den Monaten seit ihrem Tod hatten sie über nichts Bedeutsameres als Mahlzeitenarrangements gesprochen. Weder Gillian noch Richard hatten ihre Stellung in Frage gestellt.
Doch nun war alles anders. Nun kam da eine Frau namens Fleur. Eine Frau, von der sie nichts wußte.
»Du wirst sie lieben «, hatte Richard hinzugefügt, kurz bevor er aufgelegt hatte. Gillian hatte da so ihre Zweifel. Natürlich meinte er »lieben« im lässigen, modernen Sinne des Wortes. Sie hatte gehört, wie die Frauen an der Bar des Clubhauses es ständig benutzten – ich liebe dein Kleid … liebst du nicht diesen Geruch. Liebe, Liebe, Liebe. Als würde das gar nichts bedeuten; als wäre das Wort nicht sakrosankt und dürfte nur sparsam eingesetzt werden. Gillian liebte Menschen, nicht Handtaschen. Mit einer grimmigen Gewißheit wußte sie, wen sie liebte, wen sie geliebt hatte und wen sie immer lieben würde. Doch noch nie hatte sie das Wort in ihrem Erwachsenendasein laut ausgesprochen.
Draußen bewegte sich eine Wolke, und ein Sonnenstrahl landete auf dem Tisch.
»Es ist ein schöner Tag.« In der Todesstille der Küche lauschte Gillian ihrer Stimme. In letzter Zeit hatte sie angefangen, mehr und mehr Selbstgespräche zu führen.
Manchmal, wenn Richard in London und Antony im Internat war, war sie mehrere Tage hintereinander allein im Haus. Leere, einsame Tage. Sie hatte keine Freunde in Greyworth; wenn die restliche Familie fort war, hörte das Telefon zu klingeln auf. Mit den Jahren hatten viele von Emilys Freundinnen den Eindruck gewonnen, daß Gillian eher eine bezahlte Haushälterin wäre als ein Familienmitglied – und Emily hatte sich nie die Mühe gemacht, diesen Eindruck zu korrigieren.
Emily. Gillians Gedanken hielten inne. Ihre kleine Schwester Emily, tot. Sie schloß die Augen und stützte den Kopf auf die Hände. Was war das für eine Welt, in der die jüngere Schwester vor der älteren starb? Wo der zerbrechliche Körper einer verheirateten Schwester von wiederholten Fehlgeburten fast zerstört werden konnte, während der robuste Leib ihrer unverheirateten Schwester nie auf die Probe gestellt worden war? Gillian hatte Emily bei jeder Fehlgeburt gepflegt, sich bei der Geburt von Philippa und – viel später – Antony um sie gekümmert. Sie hatte zugesehen, wie Emilys Körper allmählich aufgab; beobachtet, wie sie dahinschwand. Und nun hatte man sie allein zurückgelassen in einer Familie, die eigentlich nicht ihre war, und sie wartete auf die Ankunft des schwesterlichen Ersatzes.
Vielleicht war es an der Zeit, zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Nach Emilys großzügiger Hinterlassenschaft war sie finanziell unabhängig. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, alles tun. Eine Reihe von Visionen schwirrten ihr durch den Kopf, wie die Bilder in einer Seniorenbroschüre. Sie könnte sich ein Cottage am Meer kaufen. Sie könnte anfangen zu gärtnern. Sie könnte reisen.
Die Erinnerung an ein vor vielen Jahren gemachtes Angebot schlich sich in Gillians Gedanken, ein Angebot, das sie derart begeistert hatte, daß sie sofort zu Emily gelaufen war und es ihr erzählt hatte. Eine Reise um die Welt mit Verity Standish.
»Du erinnerst dich doch an Verity?« hatte sie Emily aufgeregt gefragt, die am Kamin stand und an einer Porzellanfigur herumfummelte. »Sie zieht einfach los! Fliegt im Oktober nach Kairo, und von da geht’s dann weiter. Sie möchte, daß ich mitkomme! Ist das nicht aufregend?«
Sie hatte darauf gewartet, daß Emily ihr lächelnd Fragen stellte und Gillians Freude so aus ganzem Herzen teilte, wie Gillian das andersherum seit vielen Jahren
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