Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
ungeduldig. Er wartet nur darauf, dass ihr endlich mit der Arbeit anfangt.“
Mit einer blitzartigen Bewegung steckte sie mir ihren Schneeball in den Kragen und lief ins Haus. Der Schnee lief meinen Hals hinunter bis zum Rücken. Trotz der Kälte kam es mir vor, als würde ein kräftiger Sonnenstrahl meinen Körper erwärmen.
Wir halfen dem Meister die Treppe hinauf ins Atelier. Rebekka kam schnaufend hinterher und brachte ein paar Kissen, die sie in den Armlehnstuhl stopfte. Der Meister ließ sich schwerfällig hineinsinken. Seine Miene war hell und klar, wie schon seit Wochen nicht mehr. Er ließ mich einen Rahmen von mittlerer Größe aus der Kammer holen. Die Leinwand war bereits vorgrundiert und eingespannt. Ich stellte den Rahmen auf die Staffelei am Fenster.
„Von hier aus kann ich dir bei der Arbeit zusehen und sagen, was du tun sollst, Samuel. Zuerst brauchen wir die Skizzen, die ich von dem Händler gemacht habe. Du findest sie in dem Schrank neben dem Farbenregal.“
Ich reichte dem Meister die Blätter, und er wählte dasjenige aus, das ihm am treffendsten erschien. In einem pelzbesetzten Umhang und mit aufmerksamen Augen blickte der Salzhändler aus dem Bild. In der einen Hand hielt er ein Salzgefäß, als wolle er es einem unbekannten Gegenüber reichen. Das Porträt mit brauner Kreide auf die Leinwand zu zeichnen, war eine leichte Übung für mich. Oftmals hatte ich bei Pastor Goltzius Bilder nachgeahmt.
„Ein Maler muss sein Motiv sehr sorgfältig auswählen. Dazu braucht er eine Menge Menschenkenntnis“, bekundete der Meister. „Der Charakter einer Person drückt sich einerseits durch ihr Äußeres, anderseits aber auch durch ihre Mimik und Gestik aus. Die Geste, mit der der Salzhändler sich dem Betrachter zuwendet, weist darauf hin, dass er nicht nur ein nobler Händler, sondern auch ein ebensolcher Mensch ist.“
Unermüdlich arbeiteten wir an dem Bild, so lange jedenfalls, wie es das kurze Tageslicht in dieser Jahreszeit zuließ. An manchen Abenden wünschte der Meister noch ein paar Änderungen. Dann malte ich im Schein von Öllampen so lange, bis mein Arm schwer war wie Blei.
Die Komposition entwickelte ich, so wie der Meister es angeordnet hatte, von hinten nach vorne. Zuerst baute ich den Hintergrund aus unterschiedlichen Brauntönen auf, danach die Figur im Vordergrund. Erst ganz zum Schluss folgte die Hand mit dem Salzgefäß, da sie im Bildraum noch weiter vorne lag. Die einzelnen Partien füllte ich ihren jeweiligen Farbtönen entsprechend aus.
Der Meister sah mir von seinem Stuhl aus zu und brache mir zwei Grundregeln für die Farbgestaltung bei, die ich mir fest einprägte.
„Ein Maler hat die Aufgabe, das Leben der Natur entsprechend nachzuahmen. Am besten gelingt ihm dies durch die Abstufung von kühlen und warmen Tönen, wie sie auch in der Wirklichkeit vorkommen. Dabei kann er den Blick des Betrachters lenken, indem er die wesentlichen Dinge ins Licht setzt und alles Unwesentliche im Dunkeln lässt.“
Die andere Regel lautete: „Um den verschiedenen Materialien gerecht zu werden, muss ein Maler auch die Farben unterschiedlich gestalten. Nur so wird er den bestmöglichen Eindruck erzielen. Will er einen weichen Stoff darstellen, dann soll er ihn mit dünner, heller Farbe in den noch feuchten Untergrund wischen. Und umgekehrt gewinnt ein festes Material durch einen dicken Farbauftrag an Glaubwürdigkeit.“
Die Arbeit an dem Porträt war beschwerlicher, als ich mir hatte träumen lassen, denn der Meister befand sich in einer ständig wechselnden Gemütsverfassung. An manchen Tagen war er ungeduldig und gereizt. Dann nämlich befürchtete er, das Bild würde nicht rechtzeitig fertig werden, und alle Mühe sei vergebens. Worauf ich mich doppelt anstrengte und den Pinsel über die Leinwand fliegen ließ. Dann wieder saß er einfach nur teilnahmslos vor dem Fenster und starrte ins Leere. Dann mühte ich mich, seine Anweisungen, so gut es ging, zu erahnen.
Nach zwei Wochen war ich mit der größten Partie des schwarzseidenen Mantels fertig. Ich trat ein paar Schritte von der Staffelei zurück, um das Werk aus der Entfernung zu betrachten.
„Was fällt dir auf, Samuel?“, fragte der Meister, der sich an diesem Tag in einer leutseligen Stimmung befand. „Wie empfindest du von diesem Standpunkt aus das Zusammenspiel von Hell und Dunkel?“
Ich kniff die Augen mehrmals zusammen und stellte überrascht etwas fest, das ich zuvor aus der Nähe überhaupt nicht bemerkt
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