Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
hatte. „Die hellen Flächen im Bild treten hervor. Dagegen scheinen die dunklen Töne ins Bild zurückzuweichen.“
Der Meister nickte und zog bedächtig an seiner Pfeife.„Richtig, Samuel. Du zeigst du eine Menge Gespür für die Malerei. Und das, obwohl du erst seit wenigen Wochen Unterricht bekommst. Du hast soeben eine ganz wesentliche Grundlage der Bildkunst erfasst. Licht und Schatten, Hell und Dunkel - das sind die Elemente, aus denen ein Bild besteht. Richtig eingesetzt, verleihen sie einer Komposition Dramatik und Spannung.“
Angefeuert von diesem Lob malte ich unermüdlich weiter und hatte dabei doch stets das Gefühl, dass der Meister es war, der dieses Bild schuf. Was auf der Leinwand Gestalt annahm, waren seine Gedanken und Gefühle, während ich nur ein Mittler war, der ihm die Hand mit dem Pinsel ersetzte.
Je weiter das Porträt Gestalt annahm, desto lebhafter wurde der Meister. Wenige Tage vor Ablauf der Frist, die der Salzhändler zur Fertigstellung seines Bildes gesetzt hatte, fehlten nur noch einige kleine Partien im Gesicht und an den Haaren. Gerade wollte ich Nase und Augen ein wenig aufhellen, als der Meister plötzlich nach dem Pinsel griff und ihn festhielt, ohne dass das Werkzeug zu Boden fiel. Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, denn der Meister redete schnell und schien mit einem Mal voller Tatendrang. Begierig sog ich seine Worte in mich auf.
„Schau her, Samuel. Bei dem Nasenflügel, der dem Licht zugewandt ist, musst du etwas Rot für das Nasenloch verwenden. Dann sieht es so aus, als sei die Haut an dieser Stelle durchschimmernd.“
Er tupfte die Farbe behutsam auf die Leinwand und mischte etwas Braun auf der Palette. Rasch und sicher setzte er einen Schlagschatten unter die Nase.
„Und jetzt sieh mir einmal in die Augen, Samuel. Du wirst feststellen, dass nicht nur der Augapfel ein Glanzlicht hat, sondern auch die Tränenflüssigkeit, die auf dem unteren Lidrand treibt. Auch der innere Augenwinkel ist feucht. Auf diese Partien gehört ein dünnflüssiges Rot.“
Ich sah und staunte, wie der Meister mit nur wenigen Pinselstrichen dem Gesicht des Salzhändlers Leben einhauchte. Er setzte weitere Glanzlichter auf die Augen, die fettige Haut des Tränensacks unter den Augen und auf die Unterlippe. Und plötzlich schien es mir, als würde der Salzhändler sich anschicken, uns zuzuzwinkern.
Zwei weitere Tage noch fügte der Meister Ergänzungen hinzu und setzte letzte Pinselstriche. Dann schrieb er in die linke untere Ecke seinen Namenszug: Rembrandt, und daneben die Jahreszahl 1668. Zum Schluss vermischte er Harz mit ein wenig rötlichem Ocker zu einer dünnflüssigen Lasur und überzog damit die Leinwand. Das Porträt war vollendet. Nun würde der Salzhändler sein Bildnis rechtzeitig abholen können und den Ruhm des Meisters bis ans andere Ende der Welt tragen.
Obwohl er müde wirkte und sich langsam bewegte, konnte man doch etwas von der alten Energie in ihm spüren. Alter und Gebrechlichkeit hatten zwar seinen Körper geschwächt, nicht aber seinen Geist. Der Meister nahm in seinem Armlehnstuhl Platz, steckte sich eine Pfeife an und begutachtete das Werk auf der Staffelei.
„Was denkst du über das Bild, Samuel?“, fragte er nach einer Weile.
„Ich sehe, dass es lebt, Meister Rembrandt. Ihr habt das Innere dieses Menschen in seiner äußeren Erscheinung eingefangen.“
„Lass mich noch etwas hinzufügen. Du hast meine Anweisungen so umzusetzen gewusst, als hätte ich selbst den Pinsel geführt.“
In diesem Augenblick spürte ich, wie eine schwere Last von mir fiel. „Die Grundlage für dieses Bildnis war bereits in Eurer Skizze enthalten, Meister Rembrandt. Ich musste nur Eure Anweisungen umsetzen. Ganz sicher hätte kein anderer mir meine Aufgabe besser erklären können als Ihr.“
Der Meister legte die Pfeife zur Seite, blickte zu mir hoch und griff mit beiden Händen nach meiner Hand.
„Ich gebe zu, Samuel, ich hatte manchmal große Zweifel daran, dass wir es tatsächlich schaffen werden. Aber du bist ein beharrlicher Junge. Während unserer Arbeit ist es auch mit meiner Gesundheit bergauf gegangen. Spürst du, wie ich in der rechten Hand wieder dieselbe Kraft habe wie in der linken?“
Er drückte meine Hand noch fester, und ich sah in seinen Augen das alte, lebhafte Leuchten.
Auf der Treppe zum Atelier ertönten Schritte. Cornelia kam hinauf, stellte sich breitbeinig vor die Staffelei und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Seit
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