Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Wochen verkriechst du dich hier oben, Vater. Ich glaube, du hast völlig vergessen, dass du auch noch eine Tochter hast.“
Der Meister zog Cornelia zu sich heran. Nur widerwillig setzte sie sich zu ihm auf die Stuhllehne.
„Ich habe dich keine Sekunde lang vergessen, meine Tochter. Aber es ist wahr, ich habe dich vernachlässigt. Du weißt, wie viel von diesem Bild abhängt. Sag mir wenigstens, wie ich es wieder gutmachen kann.“
Cornelia zog die Nase kraus und antwortete hastig, als hätte sie sich ihre Worte schon im Voraus überlegt. „Ich möchte gerne zum Schlittschuhlaufen an die Amstel. Heute ist doch der große Silvesterlauf. Ja, ich weiß“, kam sie dem Einwand des Meister zuvor, „ich darf nicht alleine fort. Aber ich habe keinen älteren Bruder mehr. Was meinst du, könnte Samuel nicht mitkommen? Bitte, Vater, sag ja.“
Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, so sehr hatte mich die Arbeit an dem Porträt von allen anderen Dingen abgelenkt. Heute war der letzte Tag des Jahres. Und heute war mein Geburtstag.
Schmunzelnd strich der Meister Cornelia über das Haar und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Wenn dir so viel daran liegt, mein Kind. Geht nur und vergnügt euch. Früher habe ich keinen Silvesterlauf ausgelassen. Genießt die Zeit, ihr seid noch jung. Ich werde es mir in der Stube gemütlich machen und mit Rebekka einen Wacholderbranntwein trinken. Wir haben Grund zum Feiern, das alte Jahr nimmt ein gutes Ende.“
Leichtfüßig lief Cornelia die Stiege zum Dachboden hinauf und kam ebenso schnell wieder herunter.
„Hier, Samuel, das sind die alten Schlittschuhe von Titus. Es hätte ihn sicher gefreut, dass jemand sie noch einmal trägt.“
Der Frost hatte die Kanäle in eisige Straßen verwandelt. Der Himmel war hell und klar, es war bitterkalt. Ich zog die Filzkappe tiefer über die Ohren und holte meine dicksten Wollhandschuhe aus dem Rock. Wir gingen die Rozengracht hinunter bis zur Prinsengracht. Diese Gracht war einer der großen Kanäle, von denen die Stadt in Halbkreisen umgeben war. Die Kanäle wiederum waren untereinander durch zahlreiche kleinere Wasserwege verbunden.
Wir banden uns die Schlittschuhe unter. Knirschend glitten die Kufen über das Eis. Ganz Amsterdam war zu dieser Stunde auf den Beinen. Jung und Alt, Männer und Frauen, Ratsherren und einfache Händler. Ein paar Jungen auf Schlitten stießen sich mit Stöcken ab und stakten um die Wette.
Die Luft war erfüllt von Lachen und Rufen. Alle Menschen schienen nur ein Ziel zu haben, das Ufer der Amstel, wo sie das Ende des Jahres fröhlich ausklingen lassen wollten. In einem großen, weiten Bogen liefen wir um die Stadt herum.
Immer mehr Menschen kamen von allen Seiten hinzu, Männer, die ihre Frau an einem Spazierstock hinter sich herzogen, Halbwüchsige, die Greise auf Kufensesseln vor sich herschoben und Kinder mit ihren Hunden, denen sie zum Schutz vor dem eisigen Untergrund Lederstücke um die Pfoten gebunden hatten. Cornelia hakte sich bei mir unter.
An der Amstelschleuse bogen wir nach rechts Richtung Osten ab. Jenseits lag der Singel mit der zickzackförmig angelegten Stadtbegrenzung, aus deren Zwickeln die Flügel riesiger Windmühlen emporragten. Hinter der Blauw Brug hatten Gastwirte am Flussufer ihre Zelte aufgebaut. Es gab zu essen und zu trinken in Hülle und Fülle: Schinkenpasteten, Stockfisch, Dörrpflaumen, Bier, Wein und Schnaps. Der verführerische Geruch von frisch gebackenen Waffeln und Pfannkuchen zog zu uns herüber.
Einigen Männern war wohl der Alkohol zu Kopf gestiegen. Sie pöbelten eine junge Frau an, die Bier ausschenkte, weil sie meinten, die Wirtin hätte ihre Gläser nur unzureichend gefüllt. Daraufhin gerieten die Trunkenbolde in Streit. Man sah ein Messer blitzen, Stühle fielen um, Fäuste wirbelten durch die Luft. Einige noch nüchterne Männer traten zwischen die Streithähne und führten sie unter wütendem Protestgeschrei aus dem Zelt.
„Lass uns etwas trinken, ich bin richtig durstig geworden“, schlug Cornelia vor und holte zwei Gläser Wein, mit Wasser verdünnt. An einem der Tische saß eine Gesellschaft, die vergnügt aß und zechte. Wir setzten uns zu ihnen. Ein älterer Mann grölte ein Trinklied, dessen Text und Melodie er vermutlich gerade in diesem Moment erfunden hatte. Die übrigen sangen lauthals den Refrain mit.
Wir liefen die Amstel weiter stromabwärts, vorbei an zahlreichen Zelten und hölzernen Verkaufshäuschen. Irgendwo wurden Lotterielose
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