Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
zurück und sah in einer Ecke das Bild umgedreht an der Wand lehnen.
Gleich nach dem Frühstück, bei dem er nur eine Scheibe Brot mit Schmalz und etwas Sauermilch zu sich nahm, ging der Meister nach oben in die Dachkammer. Erst zur Abendmahlzeit kam er wieder herunter. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, wann wir endlich den Unterricht fortsetzen würden. Und welches Thema er mich als nächstes lehren würde. Doch ich wollte ihn nicht zusätzlich durch eine unbedachte Bemerkung verärgern. Sein abweisendes Verhalten machte deutlich, wie sehr ihm der verloren gegangene Auftrag des Salzhändlers zu schaffen machte.
Irgendwann konnte ich meine Ungeduld nicht länger zügeln und beschloss, mich auf eigene Faust mit Bildkomposition und Perspektive zu befassen. Dazu nahm ich einen der vielen Almanache des Meisters zur Hand. An seinen Bildern studierte ich die Architektur von Innenräumen, die mit Wendeltreppen und Rundbögen ausgestattet waren. Mit Hilfe von Maß und Winkel zeichnete ich die Räume nach. Dabei musste ich manchmal schmunzeln, denn die vielen Hilfslinien erinnerten mich an die Schnittmuster, die ich früher bei meinem Onkel angefertigt hatte.
Danach machte ich mich daran, ein früheres Gemälde des Meisters nachzuzeichnen, eine Darbringung im Tempel. 4 Es zeigte eine eindrucksvolle Architekturkulisse von großer räumlicher Tiefe. Doch ich blieb unzufrieden, denn mir fehlten die anschaulichen Lektionen des Meisters. Ich konnte nur hoffen, dass er seine Schwermut bald überwunden hätte.
Früher hatte der Meister uns sonntags hin und wieder zum Gottesdienst in die Westerkerk begleitet. Dabei glaube ich, dass es weniger das gemeinsame Beten und Singen war, das den Meister an diesen Ort trieb. Es war wohl mehr die Nähe zu seinem Sohn Titus und zu seiner zweiten Frau Hendrickje Stoffels, die beide hier begraben lagen. Doch nun blieb er alleine zu Hause und zog sich lieber mit der Bibel in Titus’ Kammer zurück.
Ich liebte den majestätischen Kirchenbau mit seinen roten Backsteinen und den hellen Fensterrahmungen. Auf der Turmspitze befand sich eine riesige Krone in Blau, Rot und Golden. Diese Besonderheit unterschied die Kirche von allen anderen Gotteshäusern der Stadt. In das Innere hätte die kleine Dorfkirche von Muiderkamp mehrere Male hineingepasst. Manchmal stellte ich mir vor, wie der Allmächtige hoch oben in der hölzernen Kuppel schwebte und auf die Betenden gütig herabblickte.
Gerne hätte ich wieder einmal Pastor Jan Goltzius auf der Kanzel erlebt. Wie er den Menschen ins Gewissen redete und dabei seine Stimme hob oder senkte, je nach Schwere seiner Ermahnungen, hatte mich immer besonders beeindruckt. Als hätten ihn Lukas, Johannes und der Erzengel Michael zugleich mit heiligem Atem erfüllt.
Die erste Hälfte des Januars war bereits vorüber. Noch immer war kein einziges Wort über die Lippen des Meisters gekommen. Obschon mein Lehrer ein alter und weiser Mann war, kam er mir manchmal vor wie ein widerspenstiges Kind. Mein jüngster Bruder Johannes hatte häufig die ganze Familie mit seinem Schweigen zum Narren gehalten, wenn er nicht erreichen konnte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.
Eines Morgens stellte Rebekka fest, dass der Kamin in der Stube über Nacht erloschen war. Sie ging mit einem Eimer zu den Nachbarn hinüber und kam mit einem glühenden Torfziegel zurück. Als sie gerade das Feuer neu entfacht hatte und sich eine wohlige Wärme in der Stube auszubreiten begann, hörten wir den Türklopfer. Rebekka ging hinaus, weil sie sehen wollte, wer dem Meister zu einer so frühen Stunde einen Besuch abstatten wollte.
Aufgeregt kam sie zurück. Sie wedelte mit einem Brief. „Mijnheer, ich habe Post für Euch. Seht nur das herrliche Siegel. Bestimmt ist der Absender eine wichtige Person.“
Der Meister zuckte gleichgültig die Schultern und würdigte das Schreiben keines Blickes. Zum ersten Mal seit vier Wochen sprach er wieder. „Mir ist es einerlei, von wem diese Nachricht stammt, es kann nichts Wichtiges sein. Beim letzten Mal hatte mir der Salzhändler einen Brief geschrieben, der mir nur Kummer und Sorgen gebracht hat. Es wird auch diesmal nicht anders sein. Zerreißt das Papier, ich will meine Ruhe haben.“
„Aber Vater, du musst doch wissen, wer dir geschrieben hat. Dann werde ich vorlesen, darf ich?“
Geschwind nahm Cornelia den Brief an sich und öffnete ihn so geschickt, dass das kunstvolle Lacksiegel nicht zerbrach. Sie rückte ihren Stuhl neben den des
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