Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Blüte seines Daseins. Er folgt seiner Berufung und erreicht große Ziele. Der Greis wiederum hat Mühe bei jedem seiner Schritte. Er nimmt einen Stock zu Hilfe, bis er irgendwann mit den Füßen voran in einem Sarg aus seinem Haus getragen wird.“
Es war erhebend, dem Professor, der so gebildet sprach, zuzuhören. Er war nicht nur ein Mann vollendeter Kleidung, sondern auch vollendeter Worte. Er wies auf das rote Buch auf dem Schreibtisch.
„Dieses bedeutsame Werk darf auf Eurer Darstellung keinesfalls fehlen, werter Meister. Ich konnte einige grundsätzliche Korrekturen an der bisherigen Anatomielehre vorbringen, die fast ausschließlich auf den Kenntnissen der Antike beruhte. Jeder Betrachter soll sofort erkennen können, dass ich ein Spezialist auf dem Gebiet der Fußchirurgie bin.“
„Ihr werdet mit der Komposition zufrieden sein, verehrter Medicus. Ganz unzweifelhaft wird man in Euch einen großen Arzt und Forscher sehen“, versicherte der Meister mit einer Stimme, aus der ich einen gereizten Unterton heraushörte. Verwundert sah ich zu ihm hinüber, da ich mir den Grund dafür nicht erklären konnte.
„Ihr habt soeben den Begriff ‘groß’ gewählt. Berücksichtigt bitte, dass ich auf dem Bild so groß erscheine, wie es meiner Reputation entspricht. Und das ist bei weitem mehr, als was mir unser Herr an körperlicher Größe mitgegeben hat. Meine Assistenten könnt Ihr wegen der geringen Bedeutung ihres Amtes entsprechend kleiner darstellen. Ihr versteht sicher, was ich meine, nicht wahr, mein lieber Rembrandt?“
Der Meister kratzte mürrisch mit dem Kohlestift über das Papier und rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. Er wirkte lustlos und verstimmt.
„Ich möchte Eure Geduld nicht länger strapazieren, verehrter Medicus. Bestimmt werdet Ihr Euch heute noch Euren so bedeutenden Forschungen zuwenden wollen. Wir sollten morgen mit der Sitzung fortfahren.“
„Ich danke Euch, Ihr seid überaus verständnisvoll. Umso mehr bedaure ich es, dass ich den Tag meiner Vorlesung noch nicht benennen kann. Niemand weiß im Voraus, wann ein frischer Leichnam für meine Demonstration zur Verfügung stehen wird. Seht die Skizzen daher als eine wichtige Vorarbeit an, damit später die Ausführung mit dem Pinsel umso schneller vonstatten geht.“
Den Meister überfiel ein heftiger Hustenanfall. Er verabschiedete sich hastig und eilte ins Freie.
Als wir das Gildehaus hinter uns gelassen hatten und vom Klovenierswal in die Oude Hoogstraat einbogen, blieb der Meister für einen Moment stehen und holte tief Luft. Seit seinem Schwächeanfall litt er unter Kurzatmigkeit. Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen üblen Gedanken abstreifen. Langsam gingen wir weiter zum Dam.
„Was meinte der Professor vorhin, als er von einem Leichnam sprach?“, wollte ich von dem Meister wissen.
„Der Medicus möchte bei seiner Vorlesung eine Leichenöffnung vornehmen. Die Kirche hat eine spezielle Vorschrift erlassen, wonach sie solche Sektionen nur an Verbrechern duldet. Bei Menschen also, die wegen eines Vergehens zum Tode verurteilt worden sind.“
Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Was für eine absonderliche Bestimmung. Ich war froh, dass so etwas bei uns auf dem Land nicht vorkam.
„Allerdings können Leichenöffnungen nur in der kalten Jahreszeit vorgenommen werden. Bei wärmeren Temperaturen würde der menschliche Körper viel zu schnell verwesen. Noch sind Eisschollen auf der Amstel. Aber in zwei Wochen ist Ostern, und die ersten Krokusse werden blühen. Ich kann nur hoffen, dass der Professor seinen Vortrag so bald wie möglich halten wird, damit das Bild bis zum Beginn der Feierlichkeiten fertig werden kann.“
Während unserer Unterredung war der Meister wiederholt stehen geblieben. Er zog ein kleines Zeichenheft aus der Gürteltasche und skizzierte das, was seine Aufmerksamkeit erregte: eine junge, hübsche Frau, die ein Kind auf dem Arm trug, einen exotisch gekleideten Händler mit einem Seidenballen unter dem Arm oder zwei Hunde, die sich auf der Straße paarten. Dabei zeichnete der Meister so rasch wie jemand, der sich eilige Notizen aufschreibt.
„Wie wollt Ihr die Komposition für das Bild anlegen?“, fragte ich gespannt weiter. Bisher hatte der Meister zwar Studien einzelner Personen angefertigt, aber noch keine in sich geschlossene Szene. Trotzdem war ich mir sicher, dass bereits ein fertiger Plan in seinem Kopf existierte.
„Du bist wieder sehr vorwitzig, Samuel, aber ich
Weitere Kostenlose Bücher