Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
machten.
Bis zum Nachmittag hatte der Meister Dutzende von Blättern gezeichnet. Die Skizzen für die beiden ersten Assistenten waren fertig.
Februar 1669
Noch den ganzen nächsten Tag verbrachten wir im Haus der Gilde, wo dem Meister auch die übrigen Ärzte der Reihe nach Modell saßen. Der letzte war ein junger Medicus, groß und hager. Er hatte dunkle, gewellte Haare und einen Bart, der hier und da bereits grau schimmerte.
„Verehrter Meister“, begann er leutselig die Unterhaltung, „ich schätze mich glücklich, zu dem auserwählten Kreis derer zu gehören, die Ihr malen werdet. Mein Name ist Thomas Block. Ich bin der Sohn von Jacob Block, den Ihr bereits in dem Anatomiestück des Doktor Nicolaes Tulp porträtiert habt. 10 Mein Vater ist vor über vier Jahren gestorben. Ich bin sicher, dass es ihn mit Stolz erfüllt hätte, dass auch sein Sohn von demselben großen Maler dargestellt wird.“
„Ich erinnere mich gut an Euren Vater, Mijnheer Medicus. Wir haben seinerzeit während der Sitzungen über die Frage diskutiert, ob der Mensch seine Sterblichkeit als eine Gnade oder einen Fluch des Schicksals begreifen sollte. Euer Vater war ein sehr kluger und belesener Mann.“
Gerade fügte der Meister letzte Striche und Schattierungen seiner Zeichnung hinzu, als die Tür sich öffnete und der Professor eintrat.
„Man hat mir berichtet, werter Meister, dass Eure Vorstudien für die Nebenfiguren abgeschlossen sind. Jetzt ist es an der Zeit, dass Ihr Euch der Hauptperson zuwendet. Folgt mir in mein Studierzimmer. Es ist für Euch sicher von Belang, die Umgebung zu sehen, in der ich die Ergebnisse meiner Forschungen zusammentrage.“
Eilig schritt der Professor voraus und führte uns über die Wendeltreppe ins Dachgeschoss. Das Arbeitszimmer war rundum mit weißen Kacheln verkleidet, auf denen in zarten, blauen Umrissen Figuren zu sehen waren. Eichhörnchen, Pelikane und Hunde, Schlittschuh laufende Frauen, spielende Kinder und sogar ein Mann, wie er gerade seine Notdurft verrichtete. In einem Regal stapelten sich Folianten. Auf dem Schreibtisch lag aufgeschlagen ein großes Buch, in rotes Leder gebunden, mit anatomischen Darstellungen. Daneben ein Totenkopf und eine Sanduhr.
„Nehmt bitte vor dem Fenster Platz, werter Meister. Ich habe zwei Stühle dorthin stellen lassen, damit Ihr für Eure Zeichnungen das beste Licht habt.“
Die beiden Männer setzten sich hin, während ich stehen blieb, weil keine dritte Sitzgelegenheit vorhanden war. Der Professor redete viel und schnell. Nur manchmal verstummte er für einen kurzen Moment, wenn der Meister ihn bat, in einer bestimmten Pose zu verharren.
Er erzählte aus seinem Leben, und ich lauschte diesen Schilderungen begierig. Professor Adriaen van Campen stammte aus einer wohlhabenden Familie und war in Amsterdam aufgewachsen. Seinen Vater hatte man als juristischen Berater zu dem Haager Stadthalter Prinz Frederik Hendrick berufen. Der Medicus hatte in Amsterdam und Italien studiert und pflegte einen regen Briefwechsel mit allen ärztlichen Größen in Europa und dem Vorderen Orient. Jedem seiner Worte konnte ich entnehmen, dass er ein bedeutender Arzt war, sicherlich der bedeutendste in Holland und allen niederländischen Provinzen, vielleicht sogar der ganzen Welt.
Bei der nächsten Sitzung hörten wir von den Forschungen des Professors. Auch diesmal richtete er das Wort ausschließlich an den Meister. Nur ein einziges Mal warf er einen flüchtigen Blick auf mich, doch ich war mir nicht sicher, ob er mich tatsächlich wahrnahm.
„Werter Meister, Ihr sollt wissen, dass ich der Verfasser eines bedeutenden anatomischen Werkes bin. Es trägt den Titel „De humani pedis fabrica“, „Über die Beschaffenheit des menschlichen Fußes“. Ich habe diesen Körperteil zum Gegenstand meiner Forschung gemacht, weil er für den Menschen der wichtigste ist. Es sind schließlich die Füße, die uns durch das Leben tragen. Denkt an ein Kleinkind, das erst lernen muss, auf beiden Füßen zu stehen.“
Der Professor ahmte auf dem Weg in die Mitte des Zimmers die unbeholfenen Schritte eines kleinen Kindes nach. Dabei erinnerte er mich an die Gaukler, die während der Kirmes in unserem Dorf ihre Kunststücke auf dem Seil gezeigt hatten. Ich bewunderte die Geschicklichkeit, die der Medicus dabei trotz seiner Leibesfülle an den Tag legte.
„Nur wenige Jahre später wird es mit einem Ball hüpfen und über Pfützen springen. Der erwachsene Mensch dagegen steht in der
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