Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
die ist voller Zauber und Schönheit. Ich jedenfalls fühle mich dazu berufen, Blumen darzustellen. Wobei ich zugeben muss, dass ich derartige Motive vor allem deswegen male, weil es das Publikum verlangt und mir meine Auftraggeber eine Menge Geld dafür zahlen. Doch vielleicht ist es sogar das Beste, Ihr bleibt bei Euren Menschendarstellungen. Dann müssen wir uns wenigstens nicht die Kunden und den Ruhm teilen.“
Allmählich kühlten sich die Gemüter der beiden Männer wieder ab, und sie wechselten das Thema. Pieter Leyster erzählte sehr anschaulich von seiner Zeit in Italien und der heiteren Lebensart der Menschen. Während er sprach, rutschte er Zentimeter für Zentimeter näher an mich heran. Ich wollte ihm ausweichen, doch rechts neben mir war die Wand. Plötzlich spürte ich eine Hand, die zuerst das eine, dann mein andere Knie in sanft kreisenden Bewegungen streichelte. Langsam und behutsam tastete die Hand sich meinen Oberschenkel hoch, wurde fester und fordernder.
Als hätte er mein Erschrecken nicht bemerkt, fuhr der Maler mit seinem Spiel fort, lehnte sich dabei wie zufällig gegen meine Schulter und plauderte im harmlosen Tonfall weiter. Mir wurde heiß. Wie sollte ich nur entkommen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen oder Meister Pieter erneut zu brüskieren?
Hilfe suchend sah ich um mich. Da bemerkte ich zwei Männer, die gerade das Gasthaus verließen. Sie brachten mich auf die rettende Idee. Ich sprang so hastig von meinem Sitz auf, dass ich dabei fast den Tisch umgeworfen hätte.
„Bitte entschuldigt mich, Meister Rembrandt und Meister Pieter. Dort hinten habe ich gerade einen Vetter meines Vaters entdeckt. Ich will ihn nur rasch begrüßen und fragen, ob es Neuigkeiten in Muiderkamp gibt.“
Während ich über die Bank kletterte, flüsterte Pieter Leyster an meinem Ohr: „Ich lass dich nicht entkommen, Samuel Bol.“
Mit langen Schritten lief ich den beiden Männern hinterher und folgte ihnen ein Stück die Straße hinab. Dann suchte ich hinter einem Karren Deckung und beobachtete von diesem sicheren Posten aus den Eingang zum Wirtshaus. Nach einer Weile trat Pieter Leyster auf die Straße, spähte in alle Himmelsrichtungen und ging schließlich Schulter zuckend in die entgegen gesetzten Richtung davon.
Ich atmete auf und ging zur Schänke zurück. In der Tür begegnete mir der Meister.
„Und, hast du mit deinem Verwandten gesprochen? Ist alles in Ordnung bei deiner Familie?“, wollte er wissen.
„Ich habe mich geirrt, Meister Rembrandt. Der Mann war gar nicht der Vetter meines Vaters“, gab ich zu und vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen.
„Du scheinst unserem Nachbarn nicht so recht über den Weg zu trauen“, sagte der Meister. „Er ist ein seltsamer Kauz, und es wird allerlei über ihn gemunkelt. Allerdings habe ich mich noch niemals um das Geschwätz der Leute gekümmert. Wir sind zwar unterschiedlicher Meinung, trotzdem ist Pieter Leyster immer ein Freund gewesen. Vielleicht ist er sogar der einzige, der mir noch geblieben ist.“
Die letzten Worte sprach er sehr leise. Ich schaute in sein Gesicht. Der Meister sah alt und müde aus.
September 1669
Die meisten Betrachter hätten das Gruppenbildnis mit der Anatomievorlesung vermutlich als vollendet angesehen. Doch noch immer fand der Meister etwas zu verbessern, hier eine Stofffalte zu vertiefen, da ein Glanzlicht in einen Augapfel oder auf eine Haarlocke zu setzen. Die Szene war so lebendig und mit so großem Können ausgeführt, dass im Verborgenen blieb, wie viel Mühe er auf diese Wirkung verwendet hatte.
Eine Vielzahl geheimnisvoller Effekte entstand aus dem meisterlichen Zusammenspiel von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel. Die Konturen des Anatomiesaals im Hintergrund blieben im Dunkeln, ebenso der eintretende Diener mit dem Mikroskop. Die Zuschauer in den ersten Reihen glichen bräunlichen Farbschatten. Das Licht kam von oben, von einer Quelle außerhalb des Bildes. Es umfing die Figuren im Vordergrund, auf die sich das Augenmerk des Betrachters richtete, und verlieh ihnen Körperlichkeit.
In dem scharf ausgeleuchteten Gesicht des ganz links stehenden Medicus warf der Kneifer auf der Nase feine Schattenlinien auf die Haut. Der Handrücken des Medicus Thomas Block wies an einigen Stellen eine raue Oberfläche auf, die seiner Haut eine fast spürbare Beschaffenheit verlieh. Zu den Knöcheln hin lief ein Schleier von rosigen Farbnuancen und von Grautönen. Eine der eindrucksvollsten Passagen bildete der
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