Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Ärmel des Professors, in dem sich die Farbe in Klumpen und Schollen aus der Oberfläche erhob und das Licht zurückwarf.
Aufmerksam beobachtete ich, wie der Meister die aufgeschlagenen Seiten des Lehrbuches zuerst mit dick aufgetragener Ockerfarbe formte und anschließend mit dem Pinselstiel Furchen in die noch feuchte Farbe zog. Dann forderte er mich auf, ein Stück zurückzutreten.
„Noch einen Schritt weiter weg. Halt, Samuel, das ist genug. Von genau diesem Standpunkt aus muss ein Betrachter sich meine Bilder anschauen. Das menschliche Auge ist erst auf eine gewisse Entfernung dazu fähig, Pinselstriche und Farben miteinander zu vereinen.“
„Verratet mir das Geheimnis von Licht und Schatten, Meister Rembrandt“, bat ich ihn.
Er griff nach einem flacheren Pinsel. „Es gibt kein Geheimnis, Samuel. Malen ist Handwerk. Alles, was ein Maler braucht, ist ein geübtes Auge und eine geschmeidige Hand. Komm her, ich kann es dir beweisen.“
Ich trat neben ihn. Mit dem Malstock deutete der Meister auf die Leinwand.
„Licht und Schatten stehen in einem ständigen Wechsel. Eine beleuchtete Form kann Lichtreflexe in der Schattenzone einer anderen Form erzeugen, wie auch umgekehrt. Betrachte die Figur des Medicus Thomas Block. Siehst du, wie das Weiß des Kragens sein Licht auf die verschattete Wange wirft und auf die Unterkante der Nase?“
Er mischte etwas Bleiweiß mit Ocker und Zinnober und fuhr mit dem Pinsel mehrmals zart über diese Partien. Beim Zurücktreten war ich verblüfft, wie diese nur geringfügige Änderung das Gesicht des Medicus noch mehr belebte. Der Meister mischte ein wenig Ultramarin unter die Farbe und setzte einen leichten Schatten neben das Kinn.
„Diese Luftspiegelung bewirkt außerdem, dass die Farbe der Haut in der unteren Gesichtshälfte kühler erscheint als in der oberen“, erklärte er. Danach legte er Pinsel und Palette zur Seite und setzte sich in seinen Armlehnstuhl. Er zündete sich eine Pfeife an und schaute zufrieden auf sein Werk.
Immer wieder hatte der Meister davon gesprochen, dass handwerkliche Technik und Geschicklichkeit die alleinigen Grundlagen seiner Malerei seien. Trotzdem war ich fest davon überzeugt, dass noch mehr dahinter stecken musste. Denn was der Meister auf die Leinwand brachte, war nicht nur das bloße Abbild einer Person. Es war die sichtbar gewordene Tiefe seines Charakters, seine Seele. Rembrandt van Rijn besaß die Gabe, unter die Haut seines Gegenübers zu kriechen und zu verstehen, was der Porträtierte vielleicht nicht einmal über sich selbst wusste.
Die Herbstkirmes war ein Ereignis, dem in Amsterdam genauso entgegengefiebert wurde wie bei uns auf dem Land. Schon Tage zuvor hatten Torwächter, Trommler und Ausrufer überall in der Stadt das Fest angekündigt. Es dauerte acht Tage und begann am letzten Sonntag im September um halb eins mit einem halbstündigen Glockenläuten vom Stadhuisturm.
Cornelia und ich gingen zum Dam und sahen dem Aufzug der Bürgerwehren zu, die der Reihe nach in ihrer farbenprächtigen Festtagskleidung aufmarschierten. Allen voran die Bogenschützen als älteste Gilde, danach die Schützen mit der Armbrust und zum Schluss die Kompanie der Büchsenschützen, die ihre blank polierten Feuerwaffen präsentierten. Sie hatte der Meister einmal in einem großartigen Gruppenbildnis dargestellt. Wie die Kompanie des Hauptmanns Frans Banningh Cocq und seines Leutnants Willem van Ruytenburgh sich zum Ausmarsch formierte. 15
Neben der Koopmansbeurs hatte man einen Pfahl errichtet, auf dem ein hölzerner Vogel saß. Hier übten sich die Männer der Bogenschützen im Schießen. Wer es schaffte, den Vogel mit einem Pfeil herunterzuholen, wurde zum Schützenkönig ernannt. Ein junger, dicklicher Mann mit teigigen Gesichtszügen hatte den Vogel getroffen. Unter dem Beifall der Umstehenden wurde ihm ein mit Federn geschmückter Hut als Ehrenzeichen aufgesetzt.
Breitbeinig schritt er an den Zuschauerreihen vorbei, um sich ein hübsches Mädchen auszuwählen, das ihn während der Kirmeswoche begleiten sollte. Mit einem Mal blickte er frech grinsend in unsere Richtung. Schnell zog ich Cornelia weiter, denn ich wollte nicht, dass sie mit jemand anderem ausging. Und erst recht nicht mit diesem widerlichen Schützenkönig.
„Sieh mal da vorne, der Hund“, versuchte ich sie abzulenken.
Auf einem Podest führte ein kleiner, schwarz-weiß gefleckter Hund Kunststücke vor. Er sprang durch einen Reifen, tanzte auf den Hinterpfoten und
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