Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
flüchtig zu und machte ein Handzeichen, dass er soeben noch seine Studie fertig skizzieren wollte.
„Wie ich sehe, demonstriert Ihr Eurem Schüler die Fingerfertigkeit des trinkenden, Karten spielenden Volkes.“
Leyster hatte sich über den Tisch gebeugt und warf einen Blick auf die Skizze.
„Vortrefflich. Das gründliche Beobachten eines Objektes in seiner natürlichen Umgebung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Überzeugungskraft eines Bildes.“
Leyster winkte die Dienstmagd zu sich und bestellte drei Gläser alten französischen Branntwein.
„Fühlt Euch als meine Gäste. Nein, keinen Widerspruch. Ich habe vor einer Stunde ein halbes Dutzend Bilder an den Herzog von Brabant verkauft. Nun ist mir nach Feiern unter Freunden zumute.“
Pieter Leyster spreizte seine rechte Hand. Unterhalb des goldenen Wappenrings war eine etwa drei Zentimeter lange Narbe zu sehen, die er wie zufällig mit der Linken streichelte. Mit sanftem Augenaufschlag blickte er mich von der Seite her an. Er schien nicht im Geringsten verärgert zu sein über die Wunde, die ich ihm bei meinem Besuch zugefügt hatte.
Der Meister legte Stift und Heft zur Seite und prostete seinem Gegenüber zu.
„Danke für die Einladung, trinken wir also auf Euer Wohl, Pieter. Ich freue mich über Euren Erfolg, wenngleich ich nach wie vor der Meinung bin, dass Ihr Euch für das falsche Sujet entschieden habt.“
„Ganz im Gegenteil, mein lieber Rembrandt, mein Erfolg ist der beste Beweis dafür, dass ich das richtige Genre gewählt habe.“
Als hätten die beiden Männer nur darauf gewartet, das Gespräch von neulich fortzusetzen, befanden sie sich augenblicklich wieder in einem heftigen Meinungsstreit.
„Nichts ist so vielfältig wie die Darstellung des Menschen“, erklärte der Meister entschieden und erhob seine Stimme, da die Musikanten zu einem neuerlichen Spiel einsetzten. „Daher ist es auch kein Zufall, dass es so viele verschiedene Arten von Porträts gibt. Denkt nur an das historische Bildnis, das eine Gestalt aus der griechischen oder römischen Sagenwelt darstellt. Oder nehmt die politischen Repräsentanten aus der ruhmreichen Vergangenheit unseres Landes. Besonders wichtig ist weiterhin das biblische Porträt, wobei hier zusätzlich noch zwischen Altem und Neuem Testament zu unterscheiden ist. Dann sind da noch das Gruppenbildnis mit mehreren Personen sowie das Selbstbildnis. Von der letzten Sorte habe ich seit meiner Jugend so viele gemalt, dass ich sie überhaupt nicht mehr alle aufzählen könnte.“
Pieter Leyster machte eine Handbewegung, als würde er einen unsichtbaren Gegenstand über die Schulter werfen. Der Meister tat, als hätte er diese Geste nicht bemerkt und fuhr beharrlich fort.
„Des Weiteren das Porträt nach einem lebenden Modell. Dabei kann es sich sowohl um einen reichen Kaufmann, einen aussätzigen Bettler oder um eine junge, hübsche Frau handeln, deren Verlobter ein Hochzeitsbildnis in Auftrag gegeben hat. Und vergesst nicht die Bildnisse, die einen der fünf Sinne symbolisieren. Den Lautenspieler etwa, der auf das Gehör verweist oder den Weintrinker, der den Geschmackssinn veranschaulicht.“
Pieter Leyster zeigte sich unbeeindruckt. Er bestellte eine weitere Runde Branntwein und prostete seinem Nachbarn selbstgewiss zu. Ich nippte nur an meinem Glas und schüttete den Rest auf dem Fußboden. Schließlich wollte ich kein zweites Mal in Anwesenheit von Meister Pieter meinen klaren Kopf riskieren. Beide Männer hatten zum Glück nichts davon mitbekommen.
„Eure Argumente verblassen gegenüber dem Stillleben, mein lieber Rembrandt, denn es ist unendlich vielseitig und fordert die Aufmerksamkeit des Betrachters bei weitem mehr heraus. So kann ich zum Beispiel einen reich gedeckten Tisch malen mit kostbarem Tafelgeschirr und Silber. Oder ein Bild mit Büchern, Schreibzeug oder Musikinstrumenten. Vielleicht will ich aber auch die unermesslichen Schätze des Meeres preisen und wähle hierfür Fische, Muscheln und Hummer als Motive. Wenn ich einen Totenschädel neben einer Sanduhr und einer brennenden Pfeife abbilde, so erinnere ich die Betrachter zugleich an die Vergänglichkeit irdischen Lebens.“
„Eben weil der Mensch endlich ist, halte ich ihn in einem bestimmten Augenblick seines Lebens fest. Er altert fortan nicht mehr. Im Bild überwindet er die Zeit und wird unsterblich.“
„Die Zukunft ist eine ungewisse Größe. Wir sollten uns vielmehr um die Gegenwart kümmern, lieber Freund, und
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