Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
meiner Hand noch bestaunte, drang wie Donnerhall eine Stimme an mein Ohr: „Haltet den Dieb! Er hat mein Geld gestohlen.“
Ich blickte auf und sah, wie der Mann mit dem Umhang auf mich zueilte und dabei aufgeregt mit dem Finger auf mich deutete. Zwei Passanten blickten fragend zwischen dem Mann und mir hin und her. Erst in diesem Moment begriff ich, dass der Mann mich meinte. Dass er mich für einen Dieb hielt, weil ich seinen Geldbeutel an meine Brust gedrückt hielt.
Ich erstarrte vor Schreck. Im selben Moment drehte ich mich um und rannte davon. Rannte, so schnell ich konnte, zur Westerkerk. die Schritte und Rufe der Leute dröhnten in meinem Kopf.
„Festhalten! Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren!“
Hinter der Kirche bog ich nach rechts ab und lief ein Stück Richtung Norden, danach auf die andere Seite der Prinsengracht in die Westerstraat. Den vielen Stimmen nach zu urteilen, hatte inzwischen eine ganze Horde von Männern die Verfolgung aufgenommen. Sie waren mir dicht auf den Fersen. Wie ein Hase lief ich wieder nach links, zwischen den Häuserreihen hindurch, in die Egelantiersgracht, und gleich wieder nach rechts. Es musste mir unbedingt gelingen, die Männer abzuschütteln.
Mein Herz raste, ich rang nach Luft. Ich wusste nicht, wie lange ich diesen Vorsprung halten konnte. Es würde bald anfangen zu dämmern, und ich musste noch die Bloemgracht überqueren. Wenn die Zugbrücke am Ende des Kanals hochgezogen war, saß ich in der Falle. Da hörte ich schon den Brückenwärter von weitem rufen.
„Halt! Stehen bleiben!“
Von rechts sah ich einen Frachtkahn kommen und ahnte, was nun geschehen würde. Und dann schwenkte die Brücke auch schon mit einem quietschenden, knarzenden Geräusch in die Luft. Der Fluchtweg war mir abgeschnitten. Ich war verloren. Verzweifelt schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel.
Da griff eine Hand nach meinem Kragen und zerrte daran. Ganz fest biss ich die Zähne aufeinander und wollte weiterrennen. Ehe ich wusste, wie mir geschah, baumelten meine Beine in der Luft, und ich saß plötzlich in einer Kutsche. Ich hörte Peitschenknallen, und im selben Moment raste das Gefährt in hohem Tempo davon, holperte über das Pflaster. Unsanft wurde ich in meinem Sitz hin und hergeschüttelt. Und dann sah ich, wer mich in letzter Sekunde vor meinen Verfolgern gerettet hatte. Mir gegenüber saß Pieter Leyster.
„Nun, Samuel Bol, mir scheint, als hättest du es heute besonders eilig.“
Ich nickte wortlos, wagte kaum, ihm in die Augen zu schauen.
„Wohin möchtest du, mein Junge?“
„Könntet Ihr… würdet Ihr mich wohl an der Rozengracht absetzen, Meister Pieter?“
Der Maler gab dem Kutscher ein Zeichen. Dann lehnte er sich in seinen Sitz zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte ein leises, triumphierendes Lächeln. „Offenbar habe ich dich soeben aus einer prekären Situation gerettet. Somit bist du mir etwas schuldig, Samuel Bol.“
Ich nickte schwach und wie benommen. Wir kamen ans Ziel. Ein spärlicher Rest von Tageslicht ließ die Häuser und Bäume wie Schemen erscheinen.
„Danke, Meister Pieter.“
Mit einem Satz sprang ich aus der Kutsche und schlüpfte ins Haus. Noch immer spürte ich mein Herz klopfen. Voller Erleichterung dankte ich dem Herrn, dass er mein Gebet erhört hatte. Als ich meinen Rock ausziehen wollte, merkte ich plötzlich, dass ich noch immer den ledernen Geldbeutel festhielt. Neugierig schaute ich hinein. Eingebettet in ein rotbraunes Seidenfutter lagen mehrere Münzen. Insgesamt fünfundzwanzig Gulden. Ich versteckte den Beutel unter der Decke am Fußende meines Bettes.
Während der Abendmahlzeit beobachtete ich aus den Augenwinkeln Cornelia, die mir direkt gegenüber saß. Wie sie einzelne Brotstücke abbiss, den Becher zum Mund führte und zwischendurch Paulintje ein Stückchen Stockfisch unter dem Tisch zuwarf. Ihre Bewegungen waren weich und graziös, wie die ihrer Katze. Morgen wollte ich sie fragen, ob sie mir noch einmal Modell sitzen würde.
Der Vorfall vom Nachmittag ließ mir keine Ruhe. Ich hatte viele Fragen und suchte nach einer Antwort. Wie hätte ich dem Mann mit dem Umhang klarmachen sollen, dass ich mir seinen ledernen Beutel nur anschauen wollte? Und dass ich ihn nicht gestohlen, sondern dass er ihn verloren hatte? Hätte er einem einfachen Jungen wie mir überhaupt geglaubt? Wohl kaum, danach sah er nicht aus. Jedenfalls nicht in dem Moment, als er plötzlich mit drohend ausgestrecktem
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