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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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der Nacht und des Morgens, entdeckte aber keine Logik darin, außer dass es mit dem Unglück etwas absolut Merkwürdiges auf sich haben musste. Und dass jemand Angst hatte, mit der Kassette würde genau das ans Tageslicht gelangen.
    Die Bodenvegetation in dem steinigen Gelände nahm zu, und auch der Baumbestand wurde dichter. In den letzten Jahren hatte Christian immer weniger Zeit in der Natur verbracht, was auf keine bewusste Entscheidung zurückging, sondern eine Folge seines chronischen Zeitmangels war. In seiner Kindheit war er viel im Odenwald gewesen, hatte Hütten gebaut, war in Bächen geschwommen und mit seinem Vater durch die Wälder gestreift. Sein Vater war ein leidenschaftlicher Jäger gewesen, der sich selbst unter harten Bedingungen in der Natur wohlgefühlt hatte, und es war seine Absicht gewesen, auch seinen Sohn entsprechend abzuhärten.
    Nachdem der Vater arbeitslos geworden war, waren sie nach langer Überlegung nach Ludwigshafen umgezogen, und der Vater hatte sichtlich darunter gelitten, nicht unmittelbar hinter dem Haus in den Wald oder ans Wasser kommen zu können. Seine Arbeit bei der BASF war anspruchsvoller gewesen als zuvor, was seiner Gesundheit nicht zugutekam. Im Nachhinein hatte Christian begriffen, wie stolz sein Vater auf ihn gewesen war, weil er schon als kleiner Junge gewusst hatte, wie man eine Forelle ausnimmt, ein erlegtes Reh aufbricht und mit feuchtem Holz Feuer macht. Christians Doktorarbeit und gesamte wissenschaftliche Laufbahn kamen nicht gegen diese Leistungen an. Als Kind war Christian gern mit seinem Vater unterwegs gewesen, aber in der Pubertät waren die beiden mit ihrem starken Willen immer öfter auf Kollisionskurs geraten. Der Ausflug zum Spessartskopf hatte mit einem Streit beim Siegfriedsbrunnen geendet. Gefolgt war langes Schweigen. Eine gemeinsame Tour hatte es danach nie wieder gegeben.
    Das Gelände wurde ebener. In der windstillen Luft hörte man Kinderstimmen. Christian blieb stehen. Hinter den Bäumen war ein Acker zu erkennen und an dessen Rand ein altes Bauernhaus mit schmutzigem Verputz und eingesunkenem Dach. Auf dem Acker standen drei heruntergekommene Wohnwagen und ein mindestens dreißig Jahre alter Lieferwagen. Zwei Schafe fraßen zwischen den verrosteten Fahrzeugen Heu und blökten zwischendurch. Kinder spielten Fußball. Ein Junge in schmutzigen Kleidern stand im Tor zwischen zwei verbeulten Zinkeimern, die anderen rannten hinter einer leeren Blechbüchse her. Das Lachen und das Geschrei waren weithin zu hören. Ein Zigeunerlager.
    Vorsichtig ging Christian näher heran. Er sah, dass von dem Leitungsmast am Straßenrand ein Kabel zum Haus führte. Zwischen den Wohnwagen waren Wäscheleinen gespannt, ein Lagerfeuer brannte, an dem ein Mann mit einem kleinen, zerlumpten Mädchen im Arm saß. Christian trat aus dem Schutz der Bäume und ging offen auf das Haus zu.
    Seine Schuhe und Hosenbeine waren voller Lehm und Staub, und er wusste, dass er mit seinem westlichen Aussehen Aufmerksamkeit erregen würde.
    Das Haus konnte den Fahrensleuten nicht gehören, aber sie schienen es in Besitz genommen zu haben. Es war nicht gesagt, dass das Telefon funktionierte. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich zwei Hunde vor Christian auf und bellten heftig. Ein mit tiefer Stimme gerufenes Kommando gebot ihnen Einhalt. Christian stand wie gelähmt vor den hechelnden Hunden und sah, wie ein mürrisch wirkender Mann zwischen den Wohnwagen hervorkam.
    »Entschuldigung«, sagte Christian außer Atem. »Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«
    »Idü«, fauchte ihn der Mann an und wedelte mit der Hand.
    Christian gab sich Mühe, eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen, obwohl er nicht verstand, was für ein serbokroatisches Wort der abweisende Mann ausgestoßen hatte. Mit Gesten zeigte er, dass er telefonieren wollte und fügte auf Deutsch hinzu: »Funktioniert das Telefon?«
    Der Mann schien ihn zu verstehen und schickte die Hunde mit einem leise ausgesprochenen Befehl davon.
    »Money. Money.«
    Christian wühlte hastig in den Taschen. Er gab dem Mann einen zerknüllten Zehnmarkschein. Der andere verzog keine Miene, machte sich aber auf den Weg zum Haus, und Christian eilte ihm hinterher. Im Gehen suchte er in der Tasche nach dem Kassenbon mit der Adresse und der Telefonnummer des Hotels Jadran. Er hoffte inständig, Sylvia dort zu erreichen.
    Das Haus machte einen verlassenen und zugleich bewohnten Eindruck. Es gab Möbel und Kleider, aber die sahen aus, als

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