Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
Betont ruhig trat er in den Schutz des Waldes, öffnete dabei die Tüte und sah darin die kleine Kassette, deren Wert in Menschenleben gemessen wurde.
Er warf die Tüte weg und schob die Kassette in die Innentasche seiner Jacke. Seine Beine zitterten. Sie hatten alles gegeben, aber der Wille hielt sie noch immer in Bewegung. Christian fragte sich, wem er noch vertrauen konnte. Vielleicht Sylvia Epstein, trotz allem. Und einem deutschen Journalisten, falls es ihm gelänge, einen aufzutreiben. Auf keinen Fall einer Person, die etwas mit der Untersuchung des Unglücks zu tun hatte. Er versuchte sich zu erinnern, wo er in der näheren Umgebung Telefonzellen gesehen hatte. Eine stand am Rand des Sportplatzes, fiel ihm ein. Aber sogleich kam ihm der Gedanke, ob die Verfolger nicht gerade die Telefonzellen im Auge behalten würden? Natürlich taten sie das.
Christian stapfte über den steilen Hang. Das Gehen fiel ihm schwer, aber er kämpfte sich vorwärts, in Gedanken ständig bei Rebecca und seinen Verfolgern.
25
Das kühle, dämmrige Treppenhaus in der Rue Henri Paschke auf dem Hügel St. Pierre in Cannes hallte von Saras Schritten wider. Sie blickte auf die massiven Eichenholztüren und fragte sich, wo die Männer, die zuvor Tinas Wohnung aufgesucht hatten, hineingegangen waren. Das merkwürdige Treiben vor der Haustür hatte aufgehört, die Lieferwagen mit ihren Antennen waren verschwunden, ebenso die Männer mit ihren Aktentaschen.
Vorsichtig stieg Sara die grauweißen Marmorstufen hinauf und ließ dabei die Hand über das verzierte schmiedeeiserne Geländer gleiten. In den Wandnischen standen zierliche Statuen. Über dem Prunk der Vergangenheit lagen freilich Staub und Patina. In jeder Etage gab es mindestens zwei Wohnungen. An einigen Türen waren Namensschilder angebracht. Hocquet, Debailleul, Izerguine. »
Im vierten und obersten Stockwerk machte Sara halt. Von draußen hatte sie in einem Fenster ohne Vorhang ein großes, orange umrandetes Schild mit der Aufschrift A LOUER und der Telefonnummer des Vermieters gesehen. Enttäuscht machte Sara sich wieder auf den Weg die Treppe hinunter. Sie wusste selbst nicht, was sie zu finden geglaubt hatte. In der dritten Etage ging vor ihr eine Tür auf, und eine alte Dame, die sich auf einen Stock mit Silberknauf stützte, trat aus ihrer Wohnung. Sara eilte sogleich zu ihr.
»Bonjour, Madame«, sagte sie so höflich wie möglich. »Bonjour«, erwiderte die Frau mit scharlachrot geschminkten Lippen. Ihre Gesichtshaut sah unnatürlich glatt und gestrafft aus, wohl eine Folge zahlreicher Schönheitsoperationen. Sie musste mindestens achtzig Jahre alt sein, hatte aber einen aufrechten Gang und war etwa in Saras Größe.
»Verzeihen Sie die Störung, aber ich frage mich, was hier heute Morgen wohl vor sich gegangen sein mag.«
Die alte Dame musterte Sara mit einem Blick, in dem keinerlei Argwohn lag. »Das frage ich mich auch. Ich habe mich erkundigt, ob Monsieur Weinstaub etwas zugestoßen sei, aber die Herren haben nur höflich gelächelt.«
»Kennen Sie Monsieur Weinstaub?«
»Nicht sonderlich gut. Aber ich glaube nicht, dass es sich bei ihm um einen Verbrecher handelt, auch wenn er etwas merkwürdig ist.«
»Wie kommen Sie darauf? Waren die Männer von der Polizei?«
»Von wo denn sonst? Sie sahen aus wie aus einer amerikanischen Fernsehserie. Sind Sie auch Polizistin?«
»Nein, ich wollte mir nur das Haus anschauen, weil ich gesehen habe, dass in der obersten Etage eine Wohnung frei ist.«
»Sie haben doch nicht etwa einen Hund?« »Nein.«
Die Frau nickte billigend. »Das hier ist ein ruhiges Haus.«
»Was meinten Sie, als Sie sagten, Monsieur Weinstaub sei etwas merkwürdig?« Die Dame lächelte mit leuchtenden Zähnen. »Das war das falsche Wort... Jacob Weinstaub lebt sehr still und zurückgezogen. Das ist ungewöhnlich, denn gemeinhin sind gut aussehende Männer doch recht aufgeschlossen.«
Die alte Dame sprach mit einem Unterton, der vermuten ließ, dass sie über reichlich Erfahrung mit aufgeschlossenen Männern verfügte.
»Wie lange wohnt Monsieur Weinstaub schon hier?« Sara machte eine Kopfbewegung zu der Tür ohne Namensschild, da sie dem Verhalten der alten Dame entnahm, dass Weinstaub dort wohnte.
»Einige Monate. Er ist irgendwann im Sommer aufgetaucht.«
»Von wo ist er denn hergezogen?«
»Er ist wohl Amerikaner. Ich hatte mal einen Freund von dort, Ende der 50er Jahre. Ich mag die Amerikaner, obwohl viele hier nicht viel für sie übrig
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