Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
Wegen der Anzahl der Geiseln, der Menge des Sprengstoffs, vor allem aber wegen Tuijas psychischem Zustand musste die Situation sicher und mit äußerster Vorsicht aufgelöst werden. Johanna hatte beschlossen, in ihrer Verhandlungsstrategie die Kahn-Taktik anzuwenden, die sie seinerzeit im FBI-Kurs geübt hatten und die sich dadurch auszeichnete, dass sie gemäßigt und wenig riskant war. Die Frage war nur, ob man mit Tuija überhaupt verhandeln konnte. Johanna drehte das Telefon in den Händen hin und her. Die Eingreiftruppe »Bär« würde bald vor Ort sein, dazu weitere Führungskräfte von Polizeiorganen, aber Johanna wusste, dass sie die Schlüsselposition innehatte.
»Braucht Tuija Medikamente?«, fragte sie Rafiq und hielt den Blick dabei auf die Straße gerichtet. Sie durften nicht zu nahe an den Bus herankommen.
»Nein. In letzter Zeit nicht.«
»Aber früher mal?«
Rafiq seufzte.
»Ich weiß, das ist ein schwieriges Thema«, sagte Johanna möglichst empathisch. »Aber Sie sehen ja, wie die Lage ist. Sagen Sie mir alles, ganz offen. Absolut alles.«
»Nach einem Selbstmordversuch hat sie starke Antidepressiva bekommen.« »Wann war das?«
»Im Jahr 2000. In Stockholm, vor dem Umzug hierher. Niemand weiß davon. Es war ein Grund, warum wir hergezogen sind. Neue Umgebung, neue Herausforderungen.« »Aber sie hat auch später noch Medikamente genommen?«
Rafiq nickte schwach. »Ich glaube, ja. Sie hat nicht darüber gesprochen. Sie wollte mich nicht mit ihren Sorgen belasten. Alles ging gut.«
»Auch finanziell?«
»Nicht finanziell. Tuija hat sich um alles gekümmert. Mir ist die Wahrheit erst in diesem Herbst aufgegangen. Ich habe einen Brief von der Bank aufgemacht.«
Johanna drehte weiterhin nervös das Handy zwischen den Fingern. Weit vor ihnen waren Rücklichter aufgetaucht, aber die gehörten nicht zu dem Bus, sondern zu dem Renault, der vom Tatort davongefahren war.
»Und dann haben Sie beschlossen, noch einmal woanders neu anzufangen?«, fragte Johanna. »Wo?«
»Im Libanon. Abu al-Mujahidin … Hamids Gruppe zahlt mir ein Honorar.« »Ein Honorar wofür?«
»Dafür, dass ich hier alles organisiert habe. Und für Informationen.«
»Wie viel haben Sie für alles bekommen?«
»Noch gar nichts. 120 000 Euro, wenn alles vorbei ist …«
»Ziemlich wenig Geld für einen Bus voller Menschenleben.«
In Rafiqs Augen blitzte Wut auf. »Ich habe nicht gewusst, dass er vorhat, einen Bus in die Luft zu sprengen. Er hat von ein paar Amerikanern gesprochen, die sich mit der Tragödie im Irak eine goldene Nase verdienen.«
»Und Tuija? Wusste sie mehr?«
»Ich weiß es nicht … nicht mehr …« Auf einmal sah er aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. »Abu al-Mujahidin hat Geld, aber die Mitglieder bekommen nichts davon.
Ich bin kein Mitglied. Hamid schon, er hat keinen Cent bekommen. Niemand bei Abu al-Mujahidin darf das wegen Geld machen. Aber Hamid hat sozusagen als Lebensversicherung Geld für seine Familie bei jemand anderem besorgt.«
»Bei wem?«
»Bei Saara Vuorio.«
65
Wirre Gedanken gingen Karri durch den Kopf. Er merkte, wie sich Tuijas Miene anspannte, weil Saara nicht bereit war, zu sprechen.
»Wo ist deine Schriftrolle?«, bohrte Tuija nach.
Saara schaute stur und ausdruckslos vor sich hin.
»Ist das so peinlich für dich?«, hakte Tuija noch erregter nach. Sie schien das Thema wesentlich nervöser zu machen als jeden anderen. »In der Schule waren solche religiösen Sachen nicht so schwer! Da konnte gar nicht laut genug davon geredet werden … Weißt du noch, wie du mir mal einen richtigen Brief geschickt hast, in dem du mich darüber aufgeklärt hast, wer von unserer Klasse in den Himmel kommt und wer ins Verderben stürzt?«
Karri war überrascht, als er auf Saaras Lippen so etwas wie ein Lächeln sah.
»So blöde war ich dann doch nicht«, sagte sie.
»Doch, das warst du. Fast genauso schlimm wie Erja. Rate mal, was sie getan hat, als sie am Samstag gemerkt hat, was ich vorhabe? Sie hat angefangen, fromme Lieder zu singen.« In Tuijas Stimme lag eine Mischung aus Spott, Ekel, aber auch einem gewissen Interesse. Glänzender Schweiß war ihr ins Gesicht getreten. »Das war eine dramatische Show … Und bald wird es noch schlimmer, wenn du mir nicht sagst, wo deine Schriftrolle ist!«
Tuija richtete die Waffe auf die Touristen und schloss die Augen. Sie öffnete sie sofort wieder, hielt die Waffe aber fest in die Richtung und sagte: »Ich zähle jetzt bis drei.
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