Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
wird sich bald herausstellen«, sagte Kulha. »Es kann auch Nebenbuhler gegeben haben.«
»Das glaube ich nicht. Aber Erja hat uns schon so oft überrascht, dass man auch diese Möglichkeit nicht ausschließen darf. Eine merkwürdige Frau. Ich habe bis jetzt noch niemanden getroffen, der sie richtig gekannt hat.«
»Ein Journalist hat angerufen und nach dir gefragt«, sagte Kekkonen.
»Von mir aus.«
Der Gedanke an eine Pressemitteilung war freilich verlockend: Fortschritte bei den
Ermittlungen im Doppelmord von Pudasjärvi. Aber dafür war es noch zu früh. Sie gähnte. Stenlunds Festnahme hatte einiges an Anspannung und Druck gelöst, auch wenn der Mann erst am nächsten Tag endgültig in die Zange genommen würde. Man konnte ihn vierundzwanzig Stunden in Gewahrsam halten. Dann musste über eine Festnahme entschieden werden. Aber mit welcher Begründung? Wenn auf die Schnelle nichts zu finden war, musste eben Verdunklungsgefahr herhalten. Das würde als Voraussetzung für eine Festnahme genügen. »Geh schlafen«, sagte Kulha, nachdem er sich Johannas Gähnen eine Weile angeschaut hatte.
»Ich kann es kaum erwarten, in meine Fünf-Sterne-Herberge zu kommen.« Alle anderen waren in einem Hotel am Fjäll untergebracht, aber Johanna wollte so nah wie möglich am Tatort bleiben.
Sie stand auf und ging zur Karte von Pudasjärvi, die an der Wand hing. Noch immer beherrschte Stenlund ihre Gedanken.
Die Ratte war planmäßig, systematisch, zielstrebig und kontrolliert vorgegangen.
Stenlund war genau so ein Typ.
Dennoch durften sie andere Spuren nicht vernachlässigen.
»Ich glaube, ich fahre bei Lea Alavuoti vorbei.«
Johanna suchte die Telefonnummer der Frau in ihrem Notizbuch. Während sie wählte, sagte sie zu ihren Kollegen: »Ich wollte eigentlich morgen früh mit ihr reden, aber jetzt möchte ich so rasch wie möglich mit Stenlund weitermachen. Und dafür brauchen wir möglichst viele Fakten.«
Lea meldete sich, und Johanna fragte, ob sie bei ihr vorbeikommen könne. »Ich bin gerade auf dem Weg von Oulu nach Pudasjärvi«, sagte Lea. Sie nannte ihre Adresse in der Mäntytie. »Vielleicht könnten Sie in zwanzig Minuten kommen.«
Der Lichtkegel der Scheinwerfer strich über die Eternitverkleidung der Hauswand und hielt beim Holzschuppen inne. Lea machte den Motor aus, ließ aber das Licht brennen. Seit jeher hatte sie Angst vor der Dunkelheit.
Erschöpft stieg sie aus dem Wagen und atmete die kalte Luft ein. Sie war die Strecke zwischen Oulu und Pudasjärvi schon unzählige Male gefahren, aber gerade im Dunkeln war es jedesmal anstrengend.
Das Haus wirkte wie tot. Die Schneedecke davor war unberührt. Mit großen Schritten ging Lea auf die Eingangsstufen zu. Sie wollte so schnell wie möglich Licht machen.
Plötzlich blieb sie stehen und stutzte. Im Schnee auf der Treppe waren Abdrücke. Jemand war hier gewesen, bevor es aufgehört hatte zu schneien.
Wer? Und warum?
Eino, der sich um das Haus kümmerte, hatte vor zwei Wochen in die Klinik gemusst, und sonst hatte hier niemand etwas verloren. Nachdem ihr Vater in Frührente gegangen war, waren Leas Eltern in ein Reihenhaus in Kuusamo gezogen. Sie waren seit zwei Monaten schon nicht mehr hier gewesen.
Im Licht der Autoscheinwerfer nahm Lea den Schlüssel aus der Tasche. Sie schloss auf und trat gegen die Tür, wie sie es gelernt hatte.
Schnell tastete sie über die kalte Wand nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Die Glühbirne im Windfang brannte, und Lea atmete erleichtert auf. Einmal war es ihr passiert, dass die Lichter nicht angingen, weil die Sicherung durchgebrannt war.
Lea ging zum Wagen zurück und machte dort die Scheinwerfer aus. Der erleuchtete Windfang ließ die Fenster der anderen Räume schwärzer als schwarz aussehen.
Auch im Haus konnte man den Mantel noch nicht ausziehen, denn die Temperatur betrug höchstens fünfzehn Grad. Lea ging von einem Zimmer ins andere und drehte die Thermostate an den Heizkörpern höher.
In ihrem Zimmer verharrte sie. Es sah fast genauso aus wie zu Gymnasialzeiten. Sie nahm das Fotoalbum aus dem Regal und suchte das Bild heraus, das sie vergangene Woche ihren Freundinnen gezeigt hatte. Darauf waren Erja, Saara, Anne-Kristiina und sie selbst bei einer Laestadianerversammlung zu sehen, in ihrem letzten gemeinsamen Sommer vor dem Abitur. Vier junge Frauen voller Energie, voller Hoffnung, mit Strenge und Eigensinn im Blick, aufrecht, fast ein bisschen herrisch. Damals hatte es noch keine
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