Remes; Ilkka - 5 - Höllensturz
Ungewissheiten gegeben, alles war eindeutig gewesen, die Mitmenschen waren entweder gut oder böse, entweder Gottes Kinder oder dem Untergang geweiht.
Vor ein paar Tagen hatten sie alle über Erjas riesige Brille und Anne-Kristiinas Pottdeckelhaarschnitt auf dem Foto gelacht.
Jetzt waren die beiden tot.
Warum hatte jemand sie töten wollen?
Lea setzte sich aufs Bett und faltete bedrückt die Hände. So hatte sie in diesem Zimmer hunderte, tausende Male gebetet, für alles Mögliche, für bessere Noten in Mathematik, um Gnade vom Sportlehrer.
Sie betrachtete sich selbst auf dem Foto. Durch die altmodische Frisur und das schlichte Sommerkleid sah sie viel älter aus, als sie damals war. Sie hatte das Gefühl, jetzt jünger zu wirken als vor zehn Jahren. Sie musste sich ein paar Tränen von der Wange wischen.
Dann horchte sie auf.
Ihr war, als hätte sie die Haustür gehört.
Sie sah auf die Uhr. Der Anruf von Johanna Vahtera lag erst zehn Minuten zurück. Aber vielleicht war sie zu früh dran.
Lea sprang auf und eilte ins Wohnzimmer. Die Zwischentür zum Flur war geschlossen. Sie stieß sie auf und ging in den Windfang, dessen Tür angelehnt war.
Der Windfang war leer. Wo war das Geräusch hergekommen. Oder hatte sie sich verhört?
Unwillkürlich fing sie an zu zittern. Obwohl die Polizistin bald kommen würde, schloss Lea die Haustür und zog die Türen im Flur fest zu, damit keine Wärme verloren ging. In der Küche riss sie sich ein Stück Haushaltspapier ab und schnäuzte sich.
Weinen half jetzt nicht. Sie musste der Polizei bei der Aufklärung der Morde helfen. Gern hätte sie Kaffee gekocht, aber ihr war klar, dass sie diese Nacht ohnehin nur schwer in den Schlaf finden würde, darum setzte sie Teewasser auf. Vielleicht würde die Vahtera eine Tasse trinken. Die Frau machte einen vernünftigen und sympathischen Eindruck.
Gerade als sie die Teebeutel aus dem Schrank nehmen wollte, hörte Lea eine Bodendiele im Flur knarren. Obwohl sie das Geräusch kannte, klang es jetzt unheilvoll und bedrohlich.
Johanna Vahtera?
Eine Polizistin würde sich nicht verstecken.
Lea drehte sich zur Tür um. Der Schrei des Entsetzens blieb ihr in der Kehle stecken, als der Widerhall eines Schusses den Raum erfüllte und ein schneidender Schmerz ihre Gedanken auslöschte.
ZWEITER TEIL
23
MÜLLDEPONIE stand auf dem schiefen Wegweiser. Darunter war das Schild mit dem Straßennamen befestigt: MÄNTYTIE. Die Abzweigung war ungefähr einen Kilometer von der Ortsmitte entfernt.
Johanna setzte den Blinker und bog ab. Entlang der Straße standen nur wenige Häuser. Einige davon sahen eher nach Gewerbehallen aus.
Durch den Wirbel der Schneeflocken im Scheinwerferlicht wurde Johanna leicht übel. Es war, als führe sie immer tiefer in ein Felsmassiv hinein. Ihr war klar, dass sie weiter musste, denn das Eindringen in diese kalte, fremde Umgebung war Voraussetzung für eine rasche Aufklärung der Morde. Aller Wahrscheinlichkeit nach wohnte die Ratte in der schwarzen Landschaft hier und sog ihre Lebenssäfte aus dieser kargen Erde.
Das Haus mit der Nummer 21 stand etwas abseits, im hinteren Teil eines verwucherten Grundstücks. Es war ein so genanntes Frontkämpferhaus, für Kriegsheimkehrer im Einheitsstil gebaut und mit Eternitplatten verkleidet.
In den Fenstern brannte Licht. Vor dem Haus stand ein Auto.
Johanna bog in die Zufahrt ein, hielt hinter dem alten Nissan an und stieg aus. Die Schneeflocken berührten ihr warmes Gesicht wie kalte, feuchte Federn. Das schwache Hoflicht unter der Dachrinne an einer Ecke des Hauses warf lange Schatten über den frischen Schnee. In den Fenstern regte sich nichts.
Während sie auf das Haus zuging, erkannte Johanna außer Lea Alavuotis Fußspuren die Abdrücke einer weiteren Person im Schnee. Vielleicht hatte sie doch ihren Freund mitgebracht? Nach einigen weiteren Schritten sah Johanna, dass die eine Fußspur vom Haus wegführte.
Der Neuschnee knirschte unter den Füßen. Johanna machte die Haustür auf. Die Tür zwischen Windfang und Flur war geschlossen. Johanna klopfte energisch an.
Niemand antwortete.
Sie klopfte erneut und öffnete die Tür.
»Guten Abend«, sagte sie laut.
Für einen Moment blieb sie im Flur stehen. Der kühle, muffige Geruch eines alten Hauses drang ihr in die Nase. An der Wand hing der letztjährige Kalender von der Genossenschaftsbank, auf dem Fußboden lag eine blaue Windjacke.
Die vollkommene Stille ließ Johanna unruhig werden. Sie wurde von
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