Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Erfahrung. Ich sage noch einmal, dass wir uns mit dem SAS in England in Verbindung setzen sollten.«
»In der amerikanischen Botschaft ist man laut Auswärtigem Amt sehr beunruhigt wegen der Botschafterin.«
»Haben die Amis ihre Hilfe angeboten?«
»Sie haben darum gebeten, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Ausländische Hilfe wäre ja doch nicht rechtzeitig hier.« »Sie könnte längst auf dem Weg nach Helsinki sein, wenn von Anfang an richtig vorgegangen worden wäre. Die Situation kann sich noch Tage hinziehen. Je schneller Profis vor Ort sind, desto besser.« »Sohlman ist da anderer Ansicht.«
»Regelt ihr eure Angelegenheiten per Abstimmung, oder was?«
»Vom Land aus kann man leicht Anweisungen geben, wenn auf dem Meer ein Unglück passiert.«
»Ich bin in der Luft. Dein Vergleich hinkt also. In einer Dreiviertelstunde bin ich in Helsinki. Was ist mit Vahtera?«
Helste berichtete von Johannas Kontaktaufnahme und davon, dass jemand von außerhalb der Residenz den Serben Informationen lieferte, möglicherweise Jasmin Ranta.
Timo nahm das Headset ab. Das Gespräch hatte ihn alles andere als beruhigt. Er kehrte zu seinem Platz zurück und nahm die neugierigen Blicke seiner Sitznachbarin zur Kenntnis. Jetzt verstand sie es immerhin, den Mund zu halten.
Alles deutete darauf hin, dass die Geiselnehmer Profis waren, darum verstand Timo nur zu gut, wenn die Amerikaner sich Sorgen um ihre Botschafterin machten. Der Hass der Serben, der sich gegen Finnland richtete, ging Timos Meinung nach schwer am Ziel vorbei, aber hinsichtlich der Amerikaner war die Situation eine andere.
Die Amerikaner hatten ihre Angriffe im Kosovo mit humanitären Absichten gerechtfertigt. Aber auch die besten Gründe waren im schlimmsten Fall biegsam und zweckorientiert. Jedenfalls waren solche Gründe nicht ins Feld geführt worden, als humanitäres Eingreifen in OstTimor oder in der Türkei, immerhin einem Verbündeten der USA, nötig gewesen wäre. Der Aufstand der Kurden gegen den Nato-Staat Türkei war eine menschliche Krise weit größeren Ausmaßes gewesen als die Lage im Kosovo. Es gab zehnmal so viele Kurden wie Kosovo-Albaner. Während des Aufstands der Kurden hatten die Türken Hunderte kurdische Dörfer und Städte zerstört, 25 000 bis 30000 Kurden waren ums Leben gekommen. Beim Aufstand im Kosovo war es zu 2000 Todesopfern gekommen. Die Türkei erkannte die Existenz eines Kurdenproblems gar nicht erst an und akzeptierte keinerlei Einmischung von außen. Die humanitären Gründe, mit denen das Eingreifen der Nato im Kosovo gerechtfertigt worden war, hatten in der Türkei überhaupt keine Bedeutung gehabt.
Timo war schon lange zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht nur die Außenpolitik der USA und der anderen Großmächte auf Entscheidungen beruhte, die nur oberflächlich mit etwas Moral aufpoliert wurden - das Gleiche galt auch für die Außenpolitik des kleinen Finnland. Wenn man in den großen Ländern an der heuchlerischen Oberfläche kratzte, stieß man immerhin auf realpolitische Interessen, während man in Finnland dort nur die Selbstverherrlichungsbedürfnisse der außenpolitischen Akteure fand und ideologische Vorstellungen, die im schlimmsten Fall im Widerspruch zu den Interessen des Landes standen. So versuchte Präsident Koskivuo schon seit Jahren, sein internationales Profil zu schärfen.
Die Maschine geriet leicht ins Schwanken, und Timo änderte seine Sitzposition. Er hatte nichts zum Lesen dabei, weshalb ihm seine Nachbarin freundlich die Tageszeitung anbot, deren Titelseite ein friedliches Bild zu Ehren des Unabhängigkeitstages zierte.
Zerstreut blätterte Timo in der Zeitung, in der an verschiedenen Stellen versucht wurde, einen neuen Blick auf den Nationalfeiertag zu werfen. Die Sonntagsbeilage enthielt einen langen Artikel über eine finnische Wissenschaftlerin, die bei der WHO in Genf an der Untersuchung des Vogelgrippevirus arbeitete. Die Frau hatte eine hektische Woche gehabt, denn aus Thailand war die Nachricht gekommen, jemand sei an der Vogelgrippe gestorben, wobei das Virus von einem anderen Menschen übertragen worden sei. Immer öfter kam es zu Fällen von Fehlalarm in dieser Richtung, aber den Wissenschaftlern zufolge rückte der Tag immer näher, an dem das seit Jahren in Umlauf befindliche H5N1-Virus sich so weit verändert haben würde, dass es von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte.
Der Artikel heiterte Timo nicht gerade auf. Das galt auch für den kleinen Zweispalter, in
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