Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
weiterzumachen und zu promovieren. Hier hat man Zeit, sich zu konzentrieren. Vielleicht würde eine Doktorarbeit ja sogar irgendwann fertig werden.«
»Gute Idee.« Mila wirkte ehrlich erfreut.
»Außer dir habe ich niemanden mehr, Mila. Wir sind jetzt zu zweit.« Tränen traten in Milas Augen. »Wenn du freikommst, werde ich vor dem Tor auf dich warten.« Sie stand auf und umarmte Vasa. »Mach's gut, großer Bruder.«
Sie drehte sich rasch um und ging zur Tür, wobei sie sich über die Augen wischte.
»Kommst du bald wieder?«, fragte Vasa.
Mila nickte von der Tür aus. »Schau genau hin, was der Junge dir zu sagen hat«, sagte sie und verschwand.
Etwas später saß Vasa wieder in seiner Zelle und starrte auf das Gemälde mit dem kleinen Jungen. Er versprach dem Jungen, dass das Schicksal von nun an in eine andere Richtung laufen würde. Und genau wie Mila es gesagt hatte, schien die Miene des Jungen ihn zu ermutigen. Plötzlich aber führte Vasa das Bild näher an seine Augen heran. An den Augen des Jungen war etwas Außergewöhnliches. Erst als er aus unmittelbarer Nähe hinsah, konnte Vasa an der Grenze von Iris und Pupille extrem kleine und zarte, strahlenförmig angeordnete Buchstaben erkennen.
Vasa hielt das Bild schräg. »H-I-N-T-E-N.«
Er drehte das Bild um und untersuchte die Rückseite. Der Rand der Leinwand war an einer Ecke einen Hauch schräg abgeschnitten - dort lagen zwei Leinwandschichten übereinander. Vasa nahm die Ecke des oberen Stoffes zwischen die Finger und hob ihn ein wenig an. Er ließ sich lösen und gab eine winzige Tasche frei, in der die Ecke eines Stücks Papier zu erkennen war.
Vasas Herz schlug heftiger. Er wandte sich mit dem Rücken zur Tür und beförderte das Stück Papier heraus.
Darauf stand eine von Hand geschriebene Botschaft: »Bin in der Heimat meiner Wollmütze. Dir ist die plastische Chirurgie erspart geblieben, mir sind gerade die Nähte des zweiten Durchgangs gezogen worden. Immerhin bin ich meine alte Kartoffelnase los. Schreib deine Examensarbeit zu Ende. Ich warte auf dich.« Vasa lächelte. Damit hatte er wahrhaftig nicht gerechnet. In zwölf Jahren würde Jasmin kaum noch auf ihn warten, aber das Versprechen wärmte ihn trotzdem. Seit ihn die Finnen von dem Anwesen in der Nähe von Minsk mitgenommen hatten, hatte er von Jasmin und seinen Kameraden nichts mehr gehört. Zlatan und Danilo waren tot, aber die anderen möglicherweise am Leben. Warum hatte Jasmin sie nicht erwähnt? Mit Slobo schien sie jedenfalls nicht mehr zusammen zu sein. Und was war mit Marek? Und mit den Diamanten?
Falls Vasa irgendwann seinen Anteil von dem Geld bekäme was sehr unwahrscheinlich war -, wusste er, was er damit tun würde. Die serbischen Kinderheime und andere Einrichtungen, die dringend Hilfe benötigten, würden überraschende Spenden erhalten.
Vasa sah aus dem Fenster. Immer dichter schwebten die Schneeflocken vom Himmel.
Er hatte seinen Kampf verloren, wie Fürst Lazar auf dem Amselfeld. Und wie Lazar hatte er zugleich gesiegt.
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