Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Menschen, gegen acht Millionen Serben. Tausende von Bombenangriffen. Alle fürchterlich. Vor allem einer.«
Vasa machte eine Pause.
»Meine Mutter war auf dem Weg, um mich und meine Schwester abzuholen und in Sicherheit zu bringen. Aber sie kam nie ans Ziel. Wissen Sie, warum?«
Präsident und Premierministerin sahen einander gequält an. »Weil die Bomber der Nato in Grdelica einen humanitären Luftangriff vornahmen. Ihr Ziel war der Zug, in dem meine Mutter unterwegs war. Mitten am helllichten Tag. Ein Personenzug mit Zivilisten.« Vasa trat bis auf wenige Zentimeter an den Präsidenten und die Premierministerin heran. »Kollateralschäden. Das war das Wort, das die Nato benutzt hat. Meine Mutter war ein Kollateralschaden. Und ihr in Finnland habt den unrechtmäßigen Krieg der Nato gegen uns gutgeheißen. Auf einem Auge blind habt ihr euch an der Verbreitung der Nato-Propaganda beteiligt. Ihr habt erst gar nicht versucht, den Konflikt ausgewogen und objektiv zu beurteilen...«
Alle Leute im Saal hatten ihre Aufmerksamkeit inzwischen auf Vasa gerichtet, der zusehends die Beherrschung zu verlieren schien. »Dann habt ihr das Um-die-Ecke-Schießen aufgegeben und seid offiziell in die Reihen der KFOR-Truppen eingetreten. Wie passt das Ihrer Meinung nach zu eurer >Neutralität< ? Woher kommt die Lust, sich an Militäroperationen zu beteiligen, für die es keine Ermächtigung durch die UNO gibt?«
Präsident und Premierministerin sahen Vasa nervös an. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten.
»Antwortet! Wer von euch beiden entscheidet über diese Dinge?«, verlangte Vasa immer aggressiver zu wissen. »Wer von euch entscheidet über die Beteiligung an der schnellen Eingreiftruppe der Nato?« Vasa hielt dem Präsidenten die Waffe an die Schläfe. »Raus mit der Sprache! Wer entscheidet darüber, ob finnische Soldaten zu eiternden Krisengeschwüren geschickt werden?«
Der Präsident leckte sich über die trockenen, blassen Lippen. »Die Regierung unter der Führung der Premierministerin hört den Auswärtigen Ausschuss des Parlaments ...«
Die Premierministerin schüttelte den Kopf. »Ja, ja, aber die Entscheidung fällt der Präsident...«
»Die formelle Entscheidung«, sagte der Präsident.
»Ist das die Art und Weise, wie finnische Politiker Verantwortung übernehmen?«, höhnte Vasa. »Es ist leicht, am Schreibtisch über alle möglichen Dinge zu bestimmen, aber was, wenn man die Verantwortung für seine Entscheidungen tragen muss?«
Vasa nahm die Waffe so abrupt von der Schläfe des Präsidenten, dass dieser erschrak.
»Was interessiert euch Finnen am Kosovo eigentlich so besonders? Ein Finne hat die Friedensverhandlungen geführt, finnische Soldaten stehen unter den KFOR-Truppen der Nato, ein Finne steht der UN-Verwaltung vor...«
Vasa hatte beim Reden eine kleine finnische Fahne, deren Stange in einem Sockel aus Marmor steckte, in die Hand genommen. Der Präsident richtete den Rücken gerade und sagte: »Dass die finnische Diplomatie in die Position aufstieg, die Spirale der Gewalt im Kosovo zu durchbrechen, war eine logische Folge der Stellungnahmen von Seiten Finnlands in den verschiedenen Stadien des Konflikts.«
Vasa starrte den Präsidenten eine Weile an. Johanna wartete gespannt, was passierte. Die Äußerung kam so routiniert und mit so ehrlicher Idiotie, dass kein Zweifel aufkommen konnte: Der Sprecher glaubte hundertprozentig an das, was er sagte. Johanna schämte sich für alle Finnen. Aber vielleicht würde auch Vasa jetzt merken, wie sinnlos es war, den Präsidenten zu quälen. Unzurechnungsfähige wurden nicht einmal vor Gericht verurteilt. Auch Vasa sollte sein Pulver nicht an Koskivuo vergeuden.
Nach einer Pause, die eine Ewigkeit zu dauern schien, fing Vasa an zu lachen. Er riss die Fahne mit dem blauen Kreuz von der kleinen Stange und zog ein Feuerzeug aus der Tasche.
»Diese Fahne hat in den letzten Jahren sichtbar im Kosovo geweht.« Vasa zündete das Fähnchen an und ließ es brennend auf den Boden fallen. »Ich kenne eure Geschichte. Mein Vater hat mir davon erzählt, als ich klein war. Er bewunderte eure Kriegskunst, er kannte den Winterkrieg Schlacht für Schlacht. Der Kosovo bedeutet für uns so viel wie Karelien für euch. Für meinen Vater war es ein Schock, dass ausgerechnet ihr damit angefangen habt, uns aus dem Kosovo zu vertreiben. Uns, die wir seit Jahrhunderten das westliche Europa gegen die muslimische Macht verteidigt haben. Finnen und Serben sind im Osten die
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