RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
stopfe sie in meine Handtasche. Auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht, lasse ich meinen Blick kurz über die Menge schweifen; ich wei ss nicht, ob ich traurig oder glücklich sein soll, da ss es keinen gibt, der mir winkt.
Wenn man sich eine Zugfa hrt vorstellt, denkt man an Bän ke oder wenigstens Sitze, oder, wenn man wenig Geld hat, vielleicht an eine Pritsche. Doch es ist ganz offensichtlich, da ss die Waggons, in die sie uns laden, für Tiere gedacht sind - es sind Viehwaggons, um genau zu sein.
„Wo sollen wir sitzen?“ Die Leute um mich herum machen ihrer Empörung Luft. „ Das ist doch kein Zug für Menschen!“ Keiner hört zu, als achtzig von uns in den Wagen gest opft wer den. Es bleibt nur Platz zum Stehen. Wir treten einander auf die Zehen, entschuldigen uns, treten dem nächsten drauf.
Unsere schreckliche Lage hält ein ständiges Angstgemurmel in Gang. Die Dame neben mir st illt ihr Baby. Sie ist keine Jü din, sie ist Kommunistin.
„Möchten Sie eine Orange?“, frage ich sie.
„ Ich wu ss te nicht, da ss ich Nahrung und Kleidung mit brin gen mu ss “, sagt sie auf S lowakisch. Ich breche ein Stück Challah ab und drücke ihr ein kostbares Stück Schokolade in die Hand.
„ Dankeschön, dankeschön.“ Ihr versagt die Stimme, weil sie völlig ausgetrocknet ist. Ich wünschte, ich hätte Wasser, um unseren Durst zu löschen. Der Zug fährt mit einem Ruck an. Zum Anlehnen bleibt nur der, der neben einem steht.
„ Wo ist die Toilette? “, will jemand wissen. Es gibt einen Kübel, der vermutlich als Toilette dienen soll. Stunden vergehen, ehe eine pei nlich berührte ältere Frau die „ sa nitäre Einrich tung “ benutzen mu ss . Ihre Tochter hält ihren Mantel wie einen Wandschirm, während die Dame auf zittrigen Beinen eine Hockstellung einzunehmen versucht.
„Verzeihen Sie bitte“, entschuldigt sie sich, „ ich konnte es nicht mehr länger aushalten.“ Manche Leute sind schockiert und verbergen schamvoll ihr Gesicht, aber früher oder später ist jeder dran, oder er beschmutzt sich selbst. Es ist nun ganz offensichtlich geworden, da ss dies keine kurze Reise sein wird, und noch ehe der Tag vorbei ist, schwappen die Exkremente ungehindert über den Rand.
Wir rechnen damit, da ss jemand kommt und unsere Fäka lien ausleert. Jedes M al, wenn der Zug hält, hämmert einer, der der Tür am nächsten ist, auf sie ein und schreit: „ Macht die Tür auf! Der Gestank bringt uns um!“
Doch keiner antwortet auf unsere Schreie. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Es kommt keine Hilfe.
Jemand stirbt. Wir versuchen uns von der Leiche fernzuhalten doch es ist nicht genügend Platz. Noch nie war ich dem Tod so nahe. Ich bete, die Augen des Toten mö gen noch einmal blin zeln und zucken. Ein schwacher Klagelaut entringt sich dem Bauch der Frau, deren Eheman n gestorben ist. Wehklagen. Ih re Stimme geht mir durch Mark und Bein. Ich starre ihren Mund an und bin erstaunt, wie diese Töne des Schmerzes und des Leids einem solch kleinen Ort entstammen können. Panik über fällt sie. „Was wird aus mir werden?“, fragt si e uns auf Jiddisch. „ Warum ist mein Mann gestor ben?“ Keiner kann ihr eine Antwort geben. Sie drückt ihren Kopf gegen ihre Brust und spricht mit ihm, als könne er sie hören.
Noch einer stirbt. Ein Schluchzen, dann entsetztes Schweigen. Ich starre auf die Körper. Sie k önnen nicht tot sein. Sie schla fen und werden aufwachen. Ich warte darauf, da ss dieser Alp traum ein Ende findet. Wen n sie schon nicht mehr wach wer den, werde sicher ich erwachen. Ein Singsang geht mir durch den Kopf: sie können nicht tot sein. Es ist unmöglich. Dies hier ist nur eine Zugfahrt in ein Arbeitslager, kein Martyrium. Die Körper regen sich nie mehr.
Jemand hämmert gegen die Tür. „Bitte helft uns!“ Ande re stimmen mit ein. „ Es ist jemand gestorben! Bitte la ss t uns die Toten wegbringen !“ Keiner sitzt S chiwa, keiner sagt das Kaddisch. Es wird gebetet, aber u nter uns ist kein Rabbi. Wir ha ben unser Schicksal vor Augen. Wir können diese Körper nicht angemessen vorbereiten. Wir können sie nicht mit der ihnen gebührenden Ehre verabschieden. Wir sind zu sehr in Sorge um unser eigenes Leben. Der Zug hält wieder und wieder an. Wir hämmern und bitten um Erbarmen, aber die Stimmen drau ss en wollen uns nicht hören.
Sind es Tage, sind es Stunden?
Die Tür geht auf. Wie ein Dolch blendet uns das Licht für den Bruchteil einer Sekunde. Wilden
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