RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Gleich hinter meinen Augen taucht eine Erinnerung auf, es hat was mit Brot und mit Mama zu tun. Ich schiebe sie weg von mir. Ich kann jetzt nicht an etwas Liebes oder Freundliches denken. Ich setze das Mahl fort, das Tolek mit uns geteilt hat. Ein Schmerz zieht mir die Brust zusam men, und ich spüre etwas Feuchtes auf meinen Wangen, ich kaue sachte und frage mich, warum ich Schniefen muss und ob ich mir eine Erkältung geholt habe. Dabei wische ich mir mit der Rückseite meines Wollärmels über die Nase.
Vier Uhr morgens.
„Raus! Raus!“
Aus dem Bett wälzen. Zum Pinkeln anstellen. Einen Tee bekommen. ln die Dunkelheit hinaus gehen. Auf der Lagerstrasse warten. Stillstehen zum Appell. Gezählt werden. Die Sonne geht aut. Gezählt werden. Hinter Emma aufstellen. Auf die Felder marschieren. Arbeiten, bis sie „Halt!“ sagen. Suppe bekommen. Einen Augenblick hinsetzen. Aufstehen. Hinter Emma aufstellen. Zurück auf die Felder marschieren. Arbeiten, bis sie „Halt!“ sagen. In ordentlichen Fünferreihen zurück durchs Tor marschieren, unter den Worten „Arbeit macht frei“ hindurch - das Schild hat keine Bedeutung mehr. In ordentlichen Reihen stehenbleiben. Gezählt werden. Die Sonne geht unter. Im Dunkeln stehenbleiben. Gezählt werden. In den Block gehen. Ein Stück Brot bekommen. Uns zum Waschen anstellen. An unserem Abendessen knabbern. Es in die Länge ziehen. Dir die Hand ablecken. Hinlegen. Aufwachen.
Vier Uhr morgens.
„Raus! Raus!“
Zum Anwesenheitsappell taucht ein Mann namens Himmler im Lager auf. Er muss eine wichtige Person sein. [5] Er beobachtet die Reihenfolge, in der wir uns aufstellen. Die Kapos werden gezählt. Auch sie sind Gefangene. Er sieht in seine Liste. „Für eine hier in den Reihen ist heute die Gefängnisstrafe zu Ende!“, verkündet er. Schweigen. Er liest ihren Namen vor. Unter den Kapos kommt es zu ein paar Ausrufen und beglückwünschenden Umarmungen. Betroffen sehen wir zu. Keiner wird unsere Namen beim Appell vorlesen und uns Freiheit versprechen. Das wissen wir inzwischen. Sie sind Gefangene. Wir sind Sklaven. Sie sind Menschen. Wir nicht.
Sommer. Es ist hei ss . Wir sehnen uns nach Wasser. Wir arbeiten in der sengenden Sonne bis wir von ihren Strahlen verbrannt und voller Blasen sind. Wir schwitzen unter der Wolle und kratzen uns mehr denn je. Es gibt keine Erleichterung.
Es geht das Gerücht um, da ss Auschwitz wieder nur noch für Männer benutzt werden soll. Man wir uns nach Birkenau brin gen. [6] Andere Gerü chte sprechen von einer Gaskammer und einem Krematorium.
„Was ist Birkenau?“ Den anderen Gerüchten schenken wir keinen Glauben, sie wurden von den Deutschen in die Welt ge setzt, um uns zu entmutigen.
Vier Uhr morgens.
„Raus! Raus!“
Aus dem Bett wälzen. Zum Pinkeln anstellen. Einen Spritzer Tee bekommen. In die Dunkelheit hinausgehen. Auf der Lagerstrasse warten. Stillstehen zum Appell. Gezählt werden. Die Sonne geht auf. Gezählt werden. Hinter Emma aufstellen. Auf die Felder marschieren. Arbeiten, bis sie „Halt!“ sagen. Suppe bekommen. Einen Augenblick hinsetzen. Aufstehen. Hinter Emma aufstellen. Auf die Felder marschieren. Arbeiten, bis sie „Halt!“ sagen. In Fünferreihen zurückmarschieren …
Wartet! Wir sind abgebogen. Wir bewegen uns weg von Auschwitz. [7]
Gemurmel geht durch unsere Reihen. Wir marschieren. Das ist eine Veränderung unserer Gewohnheiten. Das Unbekannte ist gefährlich. Die Augen wachsam, die Sinne angespannt, marschieren wir von Auschwitz weg, weg von den Wänden und Wachtürmen. Die Sonne geht unter. Vor uns türmen sich weitere Zäune und Stacheldrähte auf. Wir marschieren unter einem anderen Tor mit dem gleichen ARBEIT MACHT FREI- Schild hindurch. Wir fallen nicht darauf herein. Wir stehen in ordentlichen Fünferreihen. Werden gezählt. Emma und Erika und die anderen Kapos gehen zu ihren neuen Blöcken. Sie sind mit uns ins neue Lager gezogen. Wir stehen im Dunkeln und werden gezählt. Uns wird Block Zwanzig zugewiesen, oder ist es Zweiundzwanzig? Es ist dunkel, als wir eintreten.
Der Fu ss boden ist schmutzig. Hier gibt es keine Kojen; hier gibt es Regale, Holzbretter, dreireihig übereinander. Sollen wir hier schlafen? Wo sind die Matratzen? Unsere Betten sehen aus wie Pferdeboxen. Es riecht sauer nach menschlichen Ausdünstungen. Es gibt Fetzen anstelle von Decken. Wir bleiben stehen, drücken das Brot in unseren Händen, unfähig, damit klarzukommen, unfähig, einen Schritt zu
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