RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Nachmittags habe ich erfahren, dass man in Birkenau die russischen Kriegsgefangenen untergebracht hatte. Erschaudernd sehe ich die Leichen wieder vor mir; die zwischen Block Zehn und Block Elf in den Schmutz fallen. Jetzt müssen alle tot sein.
Diese ersten paar Wochen überleben wir nur mit grösster Mühe. Wir bekommen weniger zu essen als zuvor, das bedeutet, statt einem Stück hartem Brot nur noch die Hälfte. Die Suppe ist so dünn, da ss es sinnlos ist, uns am Ende der Schlange ein Stück Steckrübe oder Fleisch zu erhoffen, und der Tee ist so gut wie klar, jeden Morgen beim Aufwachen ist mindestens ein Mädchen unseres Blocks gestorben. Es gibt keine Ausnahmen. Wir sterben wie die Fliegen. [9]
Man braucht Verstand, um alles mitzubekommen, sämtliche Tricks, im Lager klarzukommen: Wo ist es am Wärmsten, wo ist es am Gefährlichsten, wer gibt ein bi ss chen mehr Suppe aus. Die Neuankömmlinge haben kaum Zeit, sich Überlebensregeln anzueignen, ehe sie sterben.
Nach dem Anwesenheitsappell bekommt man nichts mehr bewu ss t mit. Man darf über das, was einem selbst und allen anderen widerfährt, nicht nachdenken, denn dann verlöre man die Kraft zum Weitermachen, und man mu ss weitermachen. Die Arbeit, die man verrichtet, kann einen um bringen, aber tu t man sie nicht, stirbt man.
Egal in welcher Einheit wir sind, wir arbeiten, wir graben, wir schleppen, wir sieben, wir schieben, wir sterben. Aber Em ma tötet keine Gefangenen, das eine wei ss ich. J eden Morgen laufen Danka und ich zu Emmas Einheit. Birkenau ist schlimm, aber Emma macht es nicht noch s chlimmer .
Es ist Sonntag. Wir stellen uns zum Anwesenheitsappell auf, aber anstatt entlassen zu werden, schickt man uns in einen Block, in dem man Tische aufges tellt hat. Beim Eintre ten hän digt man uns eine Postkarte und einen Bleistift au s.
„Ihr werdet jetzt an eure Familie schreiben und ihnen sagen, da ss es euch gut geht und ihr gerne hier arbeitet“, ordnet man uns an.
Ungläubig starre ich sie an, unfähig zu begreifen, da ss ich Lügen an meine Lieben schreiben mu ss .
„Liebe Zosia“, kritzle ich auf die Karte.
„Ihr werdet genau das schreiben, was man euch sagt: ‚Wir werden gut behandelt‘, diktieren sie uns. ‘Wir bekommen viel zu essen, und die Arbeit ist nicht schwer. Ich hoffe, euch bald zu sehen. Alles Liebe, ...‘ Unterschreibt mit eurem Namen.“
Ich erinnere mich, wie Zosia weinte, als sie sagte, Nathans Karte bedeute, er sei in Sibirien, und ganz unten auf meine Karte füge ich schnell auf Polnisch hinzu: „Es ist kalt hier, ganz genauso wie Nathan es dir gesagt hat.“ Ich bete, da ss sie die Wahrheit hinter meinen Worten liest. Ich bete, sie und ihre Kinder folgen uns nicht nach Auschwitz. Wir geben unsere Karten ab und können gehen. Ich fühle mich schlapp und zittrig nach dieser Tortur. So hart wir auch jeden Tag schuften, diese paar Wörter an Zosia zu schreiben, hat mir mehr abverlangt. Danka und ich sprechen nicht über die Karten, die wir schreiben mu ss ten. Wir sprechen überhaupt nicht über die Familie.
Meine Menstruationsblutung weckt mich. Im Durcheinander des Umzugs vom einen Lager ins andere habe ich nicht einmal daran gedacht, Zeitungspapier herauszuschmuggeln. Ich hatte nicht gedacht, da ss die Latrine in Birkenau anders sein würde als die Toilette in Auschwitz. Wie naiv bin ich doch; Zeitungspapier ist ein Luxus, den wir nicht mehr verdient haben.
Ohne Vorwarnung bekomme ich immer noch einmal im Monat meine Periode. Es ist etwas, das ich zugleich fürchte und erwarte, und ich wei ss nie, wann sie kommt. Werde ich gerade arbeiten? Stehe ich am Sonntag in der Schlange zum Rasieren, blo ss gestellt vor den Männern? Ist es heute soweit, da ss ich nichts mehr finde, um den Blutflu ss aufzufangen, und entschlie ss t sich deshalb die SS, mich wegen Unreinheit zu Tode zu prügeln? Ist es heute soweit, da ss der Fetzen, den ich finde, in mir eine Infektion hervorruft?
Ich hasse den Geruch. Ich hasse es, kein Bad nehmen zu können. Der Spülstein in Auschwitz war ein Lichtblick, aber in Birkenau gibt es keine Spülsteine, nur Hähne. Es ist unmöglich, meinen Körper ohne Seife von Schmutz und Grind zu befreien. Am Sonntag, wenn Zeit genug ist, setze ich meinen roten Becher für eine gründliche Waschung ein, auch wenn das Wasser nur kalt ist. Egal wie fest, egal wie oft ich schrubbe, ich habe immer das Gefühl, es sitzt noch etwas auf meiner Haut. Ich habe Angst, da ss der Blutgeruch die Hunde
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