RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
tun. Ein Mädchen fängt zu weinen an. Wie Feuer in einem Stall greift ihre Furcht auf uns über, und wie trockenes Stroh brennt sie in uns. Tränen können diese Katastrophenflammen nicht löschen. Wir sind verloren. Das ist Birkenau.
BIRKENAU
Auschwitz II
Wie werden wir diesen Ort überleben? Was müssen wir tun, um zu leben? Was bedeutet dieses Leben? Dies sind keine Fragen, denen unsere Gedanken im Wachzustand täglich ausgesetzt sind, es sind nur Untertöne, Sorgen, die nicht gelöst werden können. Was wei ss ma n schon? Als wir Auschwitz-Bir kenau betraten, bekamen wir keine Kart e auf der stand: Sie werden am S oundsovielten entlassen, Sie wer den lebend her auskommen. Es gibt keine Garantie.
Birkenau ist ein grausames Erwachen. In Auschwitz war der Tod keine Seltenheit, aber er gehörte nicht zum alltäglichen Leben. Jetzt sehen wir den Tod jeden Tag. Er ist so beständig wie unsere Mahlzeiten. Und es sterben nicht nur ein oder zwei Mädchen am Tag, wie frühe r, so ndern zehn und zwanzig, zahllose. [8]
Ich wei ss , da ss ich bei meiner Schwester bleiben mu ss . Ich wei ss , da ss ich dafür sorgen m u ss , da ss sie lebt; ohne sie kann ich nicht überleben. Das gestehe ich mir selbst nicht ein, aber ich wei ss , da ss sie Teil meiner Wahrheit, meines Seins ist. Wir dürfen nicht getrennt werden; in der Trennung liegt Gefahr.
Es ist kälter als gestern, aber es ist jetzt immer kalt. Selbst in der Sommerhitze war mir nicht warm. Wenn es regnet, sind wir tagelang na ss ; die Nässe durchdringt alles. Wie soll man eine Temperatur messen, wen n es überhaupt nur eine Tempera tur gibt? Es ist eine dumpfe Kälte, wie die Benommenheit in meinem Kopf - immer vorhanden, selbstverständlich, schlie ss lich nicht mehr zu spüren.
Ich liebte diese warmen, glei ss enden Sommertage immer, aber dieses Jahr scheint es sie nicht zu geben. Kann es schon Herbst sein? Wie lange sind wir schon hier? Welchen Monat haben wir? Irgendwo auf der Welt mu ss es Bäume geben, die ihre Farbe wechseln, sich darauf vorbereiten, mit ihren glühenden Rot-, Orange- und Goldtönen den Winter willkommen zu hei ss en. Aber hier sehe ich keine Veränderungen. Es ist immer grau. Ich selbst bin auch grau.
Wir haben einen Kalender in Birkenau. Es ist der Hunger.
Das Leeregefühl in unseren Mägen verlä ss t uns nie, wie auch die Kälte uns nie verlä ss t. Es ist unsere einzige Uhr, unsere einzige Möglichkeit zu unterscheiden, welche Tageszeit wir haben. Hunger ist Morgen. Hunger ist Nachmittag, Hunger ist Abend. Wir hungern langsam, bis wir au ss er dem Nagen unserer aneinanderreibenden Gedärme nichts mehr wahrnehmen können.
Eine Blockälteste fragt mich, ob ich Raumälteste sein möchte, „Nein, dankeschön“, lehne ich ab und denke für mich, da ss ich doch kein Brot von anderen nehmen kann, die so hungrig sind wie ich, ich doch nicht andere zum Leiden verdammen kann, wo ich selbst leide. Ich wiederhole meine persönliche Leitlinie: Sei unsichtbar. Dies ist eine der Regeln, nach denen ich lebe. Diejenigen, die zu sehr herausragen, werden womöglich zu Fall gebracht, deshalb bleibe ich lieber im Hintergrund und versuche einfach durchzurutschen.
Nur eins existiert hinter den Toren von Auschwitz-Bir- kenau. Es wartet auf mich wie ein Leuchtfeuer; das den Nebel durchdringt. Ich halte es ständig vor mir her, jeden Augenblick. Es ist das einzige, das mich trägt - Mama und Papa. Sie rufen Danka und mich aus den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses. Ihre Hände winken vor dem Hintergrund eines schneienden Winterhimmels. „Wir sind hier!“, rufen sie. „Wir warten auf eure Heimkehr.“
„Wir kommen, Mama“, erinnere ich sie. „La ss uns hier nicht allein.“ Und sie lassen uns nicht allein. Ich höre Mamas Stimme, die mir in meiner Verwirrung Trost spendet und unsere Daseinsängste besänftigt. Nur was den Hunger angeht, kann sie uns nicht helfen, doch das Wissen, da ss Mama und Papa auf unsere Rückkehr nach Tylicz warten, mildert selbst diesen. Das Bild rahme ich in meinem Kopf und hänge es an eine gedachte Wand, wo ich es immer betrachten kann. Ich wei ss , da ss sie da sind. Ich arbeite, weil sie mich brauchen. Ich esse, weil sie warten. Ich lebe, weil sie leben.
„Mama, ich habe dir deine Kleine zurückgebracht.“ Das wiederhole ich im Geiste immer und immer wieder. Es ist der Refrain des Liedes, das mich stark und gesund und mutig macht: „ Mama, ich hab dir deine Kleine zurückgebracht. “ Meine einzige
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