RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
sollen, aber das hätte auch nichts geändert, oder? Jeder, der nicht tot ist, ist hier!“
Ich stolpere durch den Schlamm und versuche ihrer Stimme, ihrer grauenhaften Stimme zu entfliehen. „Ich hasse dich!“, möchte ich ihr ins Gesicht schreien. „Ich hasse dich.“
Die Vision bekommt einen Ri ss . Er ist lang und tief, verzerrt das geduldige, liebevolle Gesicht meiner Mutter. Als wär e ich ein Maurer, der eine Festung zu sichern hat, repariere ich ihn schnell und schmiere Beton über meine Erinnerung. Mama wartet auf uns. Sie warten im Bauernhaus. Sie sind sicher. Nur der Rest der Welt ist in Gefahr. Manka ist nicht bei Sinnen, sage ich mir. Sie war nicht dort. Sie ist verrückt. Sie ist nicht bei Sinnen, wiederhole ich mir immer und immer wieder.
Die Zäune von Birkenau erstrecken sich vor mir. Ich bleibe weit genug weg, um nicht erschossen zu werden, aber ich stehe da und starre auf das weite Land meiner Heimat. Es kommen keine Tränen, der Wasserverlust erlaubt kein Weinen, aber meine Augen schmerzen, als fielen Tränen.
Manchmal habe ich ernsthafte Zweifel, ob sie noch leben, aber manchmal habe ich das Gefühl, sie sind mir körperlich nah. Ich kann sie riechen. Ich kann ihre Berührung spüren. Ich kann Mama nicht sehen, aber ich weiss, dass sie in der Nähe ist. Es gibt Augenblicke, wo der gesunde Menschenverstand mir sagt, dass diese unsichtbare Anwesenheit ihren Tod bedeutet, aber dann verdunkelt mein umwölkter Geist diese Wahrheit wieder. Mit umwölktem Geist spürt man den Schmerz nicht so sehr, und deshalb erlaube ich mir nur dann, die Dinge klar zu sehen, wenn Klarheit lebenswichtig ist.
In Auschwitz-Birkenau ist nicht viel Zeit für klares Denken, doch als ich Danka meinen Eid ablegte, war das ein klarer Moment. Wäre mein Geist umnebelt gewesen, hätte ich nie sagen können: „Meine Hand ist das Heilige Buch, und Mama und Papa stehen hier vor uns.“ Ich habe es gesagt, als wären sie in einem Himmel, unsichtbare Wesen, die über uns wachen. Das bedeutet, ich wusste in diesem Augenblick, dass sie tot sein mussten, doch ich erlaube mir nur selten, so weit vorauszudenken. Diese beiden Geisteszustände stehen in symbiotischer Beziehung zueinander, und solange keiner seine Logik verändert, kann jeder Bereich für sich existieren.
Ich verschliesse die Tür vor Mankas Bericht über ihren Tod. Mama und Papa leben und warten in Tylicz auf uns, und Mamas warme und unsichtbare Anwesenheit bewacht und führt uns. So ist es. Und es muss für keinen anderen e inen Sinn ergeben als für mich.
Wir kommen am Morgen in Emmas Gruppe und treffen dirt auf fünfzig Frauen mittlerren Alters, die mit uns zur Arbeit gehen. Wir starren sie an, als wären sie Fremde aus einer anderen Welt. Es ist seltsam, Frauenn zu sehen, die in den Fünfzigern sind; normalerweise sortieren sie jede Frau aus, die über vierzig ist, für’s Gas. Aber da sind sie, diese fünfzig Frauen, die uns anstarren und aussehen, als wären sie unsere Mütter. [19] In ihren freundlichen, faltigen Gesichtern steht die Furch und die Beklommenheit, die dieser Ort jedem von uns aufzwingt. Womöglich denken sie an ihre eigenen Töchter und Söhne und Enkel. Ich kann mich nicht abwenden von ihren Gesichtern. Es ist schrecklich, ältere Frauen ohne ihre Kopftücher und so kahl wie uns zu sehen. Einen Augenblick überlege ich, was Mama wohl empfunden hätte, wenn man sie ohne ihre Perücke oder eine Babuschka in die Öffentlichkeit gezwunden hätte.
„Schau, Danka!“ Ich zeige auf eine Frau in der Reihe.
Danka seufzt. „Sie sieht aus wie Mama.“ Wir drücken einander die Hände und lächeln die Fremde an. Sie lächelt zurück.
Ich nehme mein Kopftuch ab und nähere mich der Frau, die Mama so ähnlich sieht. „Sie werden das brauchen können, um Ihren Kopf heute vor der Sonne zu schützen.“ Ich gebe es ihr.
„Das kann ich nicht annehmen“, stammelt sie.
„Sie müssen. Ich würde es nicht mehr aufsetzen.“ Ich wende mich ab und kämpfe gegen die Tränen an.
„Marschiert los!“ Wir gehen los, hinaus durch die Tore. Das Orchester spielt eine verstimmte Polka. Mädchen starren unser Kommando an. Münder werden aufgerissen, als die Mütter vorbeigehen, hinaus zur Arbeit marschieren. Das Schweigen, das uns folgt, ist das unsichtbare Weinen jeden Mädchens, das sich erinnert und betet, ihrer eigenen Mutter möge dieses Ende erspart geblieben sein.
Dies ist das zweite Jahr, und wir sind so viele, da ss jeweils eine von der SS ein
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