Renate Hoffmann
einen winzigen Augenblick dachte sie, dass sie den Chefposten viel mehr verdient hatte.
Frau Hoffmann holte aus, warf ihre Zigarette über die Balustrade und schaute der Glut nach, bis sie die Dunkelheit schließlich verschluckte, dann stütze sich auf dem Geländer ab und warf ihr rechtes Bein über die Brüstung. Sie würde es tun. Es war an der Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen. Sie saß auf dem Geländer. Ihr linkes Bein auf der sicheren Seite, unter ihrem rechten weit entfernt kahler Beton. Sie schaute erneut hinüber zu der fassungslosen jungen Frau. Sie verharrte in einer ähnlichen Position. Gleich würde alles vorbei sein. Sie wartete auf das Gefühl, das sie vor einigen Wochen gehabt hatte. Sie wartete auf die Bestärkung. Doch dieser Gedanke war plötzlich nicht mehr so befreiend. Ihr Herz raste, ihre Hände waren feucht. Sie hatte Angst. Und es war nicht eine Art von Angst, die Frau Hoffmann kannte. Dieses Gefühl war allumfassend und neu.
Im Augenwinkel sah Frau Hoffmann, wie das Licht in Herrn Peters Wohnung anging. Es ging ihm gut. Er war nicht tödlich verunglückt. Er lebte. Frau Hoffmanns Augen füllten sich mit Tränen, die heiß und schwer über ihre Wangen liefen. Die Tatsache, dass Herr Peters nach Hause gekommen war, erleichterte sie in einem Maß, das selbst sie sich nicht erklären konnte. Sie war überwältigt von Freude. Ihr Blick fiel auf die junge Frau. Sie hatte sich keinen Millimeter bewegt. Vielleicht hatte sie Zweifel. Vielleicht hielt sie ihre Angst zurück. Vielleicht war es auch der schier unbändige Überlebenswille, der auch in Frau Hoffmann wütete.
Zitternd saß Frau Hoffmann auf dem Geländer. Sie hatte sich entschieden. Und doch konnte sie sich nicht dazu überwinden es zu tun. Es schien so, als würde sich ihr Körper mit aller Macht gegen den grausamen Akt der Gewalt, den Frau Hoffmann im Begriff war zu begehen, zu wehren. Sie versuchte ihr linkes Bein über das Geländer zu heben. Doch etwas in ihr hielt sie davon ab es zu tun. Es fühlte sich schwer und taub an. Und so seltsam es sich vielleicht anhören mag, ihr linkes Bein hielt sie am Leben, und das schien es zu wissen.
Kapitel 19
Auf einmal ging alles unheimlich schnell. Frau Hoffmann schaute zum Balkon der fassungslosen Frau hinüber. Und dann tat sie etwas, das nicht nur nicht zu ihr passte, sondern das vollkommen im Widerspruch zu dem stand, weswegen sie auf dem Geländer ihres Balkons saß.
Frau Hoffmann holte tief Luft und schrie so laut sie es vermochte, „Nicht springen!“ Ihre Stimme hallte durch den Hof. Die hohen Mauern der umliegenden Plattenbauten verstärkten das Hallen. Die junge Frau zuckte zusammen. Frau Hoffmann war über ihren panischen Aufschrei ebenso erstaunt, wie die junge Frau, die wie erstarrt das Geländer ihres Balkons umklammerte. „Bitte, nicht springen!“, schrie Frau Hoffmann ein zweites Mal.
Die junge Frau schaute sich suchend um, dann sah sie Frau Hoffmann. Der Schock, dass jemand sie davon abzuhalten versuchte in den Tod zu springen, erstickte jedes ihrer Worte. Sie starrte lediglich in Frau Hoffmanns Richtung. Vorsichtig stieg Frau Hoffmann von der Brüstung des Balkons. Ihr rechter Fuß schien erleichtert darüber zu sein, wieder festen Boden unter sich zu spüren.
Frau Hoffmann bemerkte die Lichter nicht, die in den verschiedenen Wohnungen eingeschaltet wurden. Sie bemerkte auch nicht die Menschen, die auf ihre Balkone traten, um zu sehen, wer da eben so laut geschrien hatte. Und sie bemerkte auch nicht Herrn Peters, der sein Küchenfenster öffnete und suchend durch den dunklen Hof schaute. Frau Hoffmanns Augen lagen fest auf der fassungslosen jungen Frau. Und sie wusste, dass allein die Tatsache, dass sie in diesem Moment dort war und sie ansah ihr Trost spendete.
Die junge Frau bewegte sich keinen Millimeter. Es schien so, als würde sie abwägen, ob sie auch dann noch bereit war zu springen, wenn sie wusste, dass jemand ihr dabei zusah. Vielleicht war ihr aber auch in diesem Augenblick klar geworden, dass der Sprung in den Tod nicht die einzige Möglichkeit war, die ihr blieb. Vielleicht wurde ihr gerade klar, dass es in diesem Moment noch die Möglichkeit gab sich für das Leben zu entscheiden. Vielleicht dachte sie auch gar nichts. Vielleicht waren das vielmehr Frau Hoffmanns Gedanken.
Die beiden Frauen sahen sich an und es schien so, als würden sich deren Blicke miteinander unterhalten. Es schien so, als läge eine überdimensionale Sprechblase
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