Renate Hoffmann
wurde nur wenig geredet. Es schein so, als müsste nichts gesagt werden. Die wenigen Sätze, die sie miteinander sprachen waren Belanglosigkeiten, so beispielsweise, ob Frau Hoffmann Milch benötigte, oder ob sie eine Kleinigkeit essen wolle. Anfangs vermieden beide den Balkon und den Selbstmordversuch. Nach und nach jedoch wurde aus dem angenehmen Schweigen eine bedrohliche Stille, so als läge die Wahrheit bleiern zwischen ihnen. Es war nicht Frau Hoffmanns Art sich aufzudrängen. Sie empfand es als indiskret nach dem Grund zu fragen. Vielleicht lag es auch daran, dass Frau Hoffmann gänzlich aus der Übung war, wenn es um persönliche Gespräche ging. Außerdem war sich Frau Hoffmann nicht sicher, ob die junge Frau bemerkt hatte, dass auch Frau Hoffmann sich an diesem lauen Frühlingsabend in den Tod hatte stürzen wollen. Wenn sie es gesehen hatte, wollte Frau Hoffmann nicht darüber reden. Und deswegen fragte sie nicht nach dem Grund. Vielleicht ging es der jungen Frau ähnlich. Vielleicht wollte auch sie die dunklen Geheimnisse ihres Lebens lieber an einem dunklen Ort in ihrem inneren vergraben und so tun, als wäre all das niemals geschehen. So als wäre es nur ein abgründiger Traum gewesen, aus dem zu erwachen sich beide wünschten.
„Sie fragen sich sicher, warum ich das tun wollte...“, fragte die junge Frau nach einer Weile. Frau Hoffmann zuckte mit den Schultern. Natürlich wollte sie es wissen. Im Grunde plagte sie diese Frage schon seitdem sie die Wohnung betreten hatte. Doch sie ließ sich nichts anmerken. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es Ihnen gerne erzählen.“ Frau Hoffmann blickte auf. Die hellblauen Augen der jungen Frau waren wässrig.
„Es macht mir nichts aus“, sagte Frau Hoffmann sanft. Die junge Frau schloss die Augen und atmete tief ein. Es schien so, als würde es sie enorme Überwindung kosten über das zu sprechen, was ihr das Gefühl gegeben hatte, der einzige Ausweg wäre der Tod. Aus einer Art Reflex heraus, legte Frau Hoffmann ihre Hand auf die der jungen Frau. Diese zuckte zwar kurz zusammen, zog ihre Hand jedoch nicht weg.
„Ich hatte eine Tochter“, sagte die junge Frau mit noch immer geschlossenen Augen. „Sie war neun...“ Instinktiv erhöhte Frau Hoffmann den Druck ihrer Hand. „Sie ist mit dem Fahrrad gefahren...“ Die junge Frau stockte. Frau Hoffmann wusste, dass sie sich zu beherrschen und ihre Tränen zu verbergen versuchte. „Melanie ist immer so gerne Fahrrad gefahren...“ Frau Hoffmann war nicht leicht rührselig. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau die beim Anblick eines Neugeborenen dazu neigte in Verzückung zu geraten oder bei romantischen Filmen in Tränen auszubrechen. Frau Hoffmann war Pragmatikerin. Doch in diesem Moment spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie kannte das Ende der Geschichte. Sie wusste, was Melanie zugestoßen war. „Sie ist ohne Licht gefahren...“, sagte die junge Frau schluchzend. „Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass sie abends das Licht einschalten soll...“ In ihrer Stimme war ein Anflug von Wut zu hören. „Der LKW-Fahrer hat sie nicht gesehen...“ Heiße Tränen liefen über Frau Hoffmanns Wangen. Sie versuchte nicht sie zu verbergen. Jede ihrer Tränen zeigte ein Fünkchen ihres ehrlich empfundenen Mitgefühls. „Als der Rettungswagen eintraf war es schon zu spät...“ Die junge Frau legte ihren Kopf auf die Tischplatte. Unter ihrem heftigen Schluchzen hörte Frau Hoffmann sie noch sagen, „Melanie war auf der Stelle tot...“
Frau Hoffmann folgte der jungen Frau zur Tür. Die Augen beider Frauen waren rot und geschwollen, ihre Nasen waren verstopft. Noch nie in ihrem Leben hatte Frau Hoffmann jemanden so weinen gesehen. Es hatte ihr fast das Herz zerrissen.
Die junge Frau öffnete Frau Hoffmann die Tür und schaltete das Licht im Flur ein. „Ich danke Ihnen für alles...“, sagte die junge Frau. Der Ausdruck in ihrem Gesicht strömte warm und wohlig durch Frau Hoffmanns Körper. Es fühlte sich so an wie eine heiße Tasse Tee an einem eiskalten Wintertag. „Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte die junge Frau lächelnd. Und auch Frau Hoffmann musste schmunzeln. „Ich heiße Renate...“, antwortete Frau Hoffmann. „Ich bin Silvia“, sagte die junge Frau. Sie hielten sich für einen Moment die Hand, dann verschwand Frau Hoffmann im Flur. „Ach, ja, und Renate?“ Frau Hoffmann drehte sich noch einmal um. „Vielleicht wollen Sie mir auch eines Tages erzählen,
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