Renate Hoffmann
zwischen ihren Balkonen, die niemand außer ihnen sehen konnte. Herr Peters schaute verängstigt hinunter zu seiner Nachbarin, die er vermutlich niemals zuvor gesehen hatte. Das Gesicht der jungen Frau war erfüllt von derselben Leere, wie damals, als sie den Anruf erhalten hatte. Sie nahm langsam ihr Bein von der Brüstung. Frau Hoffmann bildete sich ein zu sehen, wie ihr Körper zitterte, was unmöglich sein konnte. Die junge Frau stand mit beiden Beinen auf ihrem Balkon. Frau Hoffmann konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Schwach, euphorisch und unbändig traurig.
Frau Hoffmann wusste nicht, was als nächstes zu tun war, sie hatte schließlich noch nie jemanden davon abgehalten vom Balkon zu springen. Sie war sich nicht sicher, ob sie nun einfach in ihre Wohnung zurückgehen, oder lieber doch auf ihrem Balkon bleiben sollte.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen rüber zu kommen?“ Die Stimme der jungen Frau zitterte, als sie das fragte.
„Nein... überhaupt nicht“, antwortete Frau Hoffmann lächelnd.
Frau Hoffmann stieg in den Aufzug. In der gesamten Zeit, die sie in diesem Haus wohnte, hatte sie noch nie um diese Uhrzeit ihre Wohnung verlassen. Sie fragte sich, ob wirklich sie diejenige gewesen war, die die junge Frau davon abgehalten hatte zu springen, oder ob es vielmehr in Wirklichkeit genau andersrum gewesen war und die junge Frau sie davon abgehalten hatte. Frau Hoffmann betrachtete sich für einen Moment im schmalen Spiegel, der an der Fahrstuhltür angebracht war. Sie trug noch immer ihr schwarzes Kostüm. Dasselbe Kostüm, in dem sie beschlossen hatte zu sterben. Eigentlich müsste Frau Hoffmann jetzt tot sein. Eigentlich dürfte sie in diesem Moment nicht im Aufzug stehen und nach unten fahren. Der Gedanke, dass sie nun eigentlich leblos und blutverschmiert auf dem kargen Betonboden liegen müsste, erschien ihr auf einmal höchst seltsam. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Frau Hoffmann ging in den dunklen Hof. Das kalte Licht der Energiesparlampen ließ die Siedlung noch trister erscheinen.
Sie ging zum gegenüberliegenden Hauseingang. Als sie vor der immensen Tafel mit hunderten von Namen und Klingeln stand, fiel ihr erst auf, dass sie nicht einmal wusste, wie die junge Frau hieß. Im Grunde wusste sie gar nichts von ihr. Bis auf die Tatsache, dass sie sich noch vor wenigen Minuten umbringen wollte, versteht sich.
Kapitel 20
Ratlos stand Frau Hoffmann im klinischen Licht des Hauseingangs. Sie fragte sich, ob sie nach oben rufen sollte, doch das kam ihr albern vor. Kurzzeitig spielte sie auch mit dem Gedanken einfach wieder in ihre Wohnung zurück zu gehen, doch auch das tat sie nicht. Stattdessen wartete sie vor der Tür.
Wenige Sekunden später hörte sie die Stimme der jungen Frau. „Zehnter Stock links“ Brummend ertönte der Summer und Frau Hoffmann stemmte sich gegen die Tür. Es war ein komisches Gefühl durch diesen Flur zu gehen. Alles sah genauso aus, wie bei Frau Hoffmann im Flur, nur verkehrt herum. Der Aufzug war links und nicht rechts, die Wand mit den Briefkästen war auf der rechten Seite anstelle der linken. Doch abgesehen davon war alles gleich. Die ocker-senf-farbene Wandfarbe, der Steinboden, die Energiesparlampen. Frau Hoffmann fühlte sich unbehaglich. Und das nicht etwa deswegen, weil sie die junge Frau nicht besuchen wollte, sondern weil es ihr so erschien, als wäre sie wieder in einem der Träume, die sie in der letzten Zeit immer häufiger plagten.
Sie fuhr in den zehnten Stock. Die Türen des Aufzugs öffneten sich knatternd. Ihre Schritte hallten durch den langen Gang. Frau Hoffmann schaute sich um. Bis auf die Fußabtreter vor den Wohnungstüren, sah alles genauso aus, wie im elften Stock des gegenüberliegenden Hauses.
Plötzlich war es stockfinster. Frau Hoffmann zuckte kurz zusammen. Sie spürte ihren Puls bis in die Fingerspitzen. Durch einen Spalt fiel Licht in den Flur. Frau Hoffmann ging zu einer angelehnten Tür. Auf dem Klingelschild stand in großen Buchstaben der Name Blinker. Frau Hoffmann räusperte sich und klopfte vorsichtig an.
Wortlos deutete die junge Frau in ihre Wohnung. Frau Hoffmann trat unsicher ein. Bis auf die viel geschmackvollere Einrichtung hätte es auch ihre Wohnung sein können. Auf einem großen Tisch standen zwei Tassen auf schönen Untersetzern. Daneben eine Zuckerdose aus Porzellan und eine alte Teekanne mit filigranen Malereien.
In der ersten Stunde, die Frau Hoffmann mit der jungen Frau verbrachte,
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