Renate Hoffmann
warum Sie springen wollten...“
Kapitel 21
Als Frau Hoffmann ihre Wohnungstür aufsperrte, war es schon nach Mitternacht. Ihre Balkontür stand noch immer offen. Sie war froh, dass Silvia sie nicht dazu gedrängt hatte, ihre Geschichte zu offenbaren. Sie nahm es ihr nicht übel, dass sie sie indirekt darauf angesprochen hatte. Frau Hoffmann hätte sich Silvia gerne anvertraut, doch da war etwas tief in ihrem Inneren, das sie davon abgehalten hatte. Ein Teil in ihr, war nicht dazu bereit gewesen sich ihr zu öffnen. Vielleicht auch, weil Frau Hoffmann sich niemandem öffnete.
Frau Hoffmann ging ins Bad und griff nach ihrer antibakteriellen Mundspülung. Sie beschloss, dass sie an diesem Abend mit ihrem allabendlichen Zahnpflegeprogramm ausnahmsweise aussetzen würde. Sie fühlte sich unbeschreiblich kraftlos. Es schien, als säße ihr der nur knapp entgangene Tod noch immer in den Gliedern.
Während sie vierzig Sekunden lang fleißig gurgelte, überkam sie das Gefühl, dass sie nach so langer Zeit eigentlich kein Recht mehr dazu hatte, sich so elend zu fühlen. Silvia hatte ihre Tochter erst vor wenigen Tagen verloren. Sie hatte das Recht dazu. Frau Hoffmann dachte an jenen Tag im November und daran, dass sie nie geweint hatte. Nicht ein einziges Mal. Vielleicht deswegen, weil sie es nicht begreifen wollte, und zu weinen hätte bedeutet, es an sich heran zu lassen, es zu spüren. Doch Frau Hoffmann hatte es nicht spüren wollen. Im Grunde wollte sie es noch immer nicht.
Für einen kurzen Augenblick dachte Frau Hoffmann an Herrn Peters. Sie dachte daran, dass sie sich um einen Menschen Sorgen gemacht hatte, den sie nicht einmal kannte. Früher hatte sie sich häufig Sorgen gemacht. Meistens galten ihre Sorgen einem einzigen Menschen, um den sich zu sorgen nun keinen Sinn mehr machte. Seither hatte sie sich nie gesorgt. Doch an diesem Tag hatte sie Angst um jemanden gehabt. Und auch, wenn es sich fremd und weit entfernt anfühlte, sich um jemanden zu sorgen, ein kleiner, schüchterner Teil in Frau Hoffmann freute sich darüber, das wieder empfinden zu können.
Frau Hoffmann kuschelte sich in ihre Bettdecke. Niemals zuvor war sie ihr so wohlig weich erschienen wie an diesem Abend. Sie rieb genüsslich mit ihren Füßen über den sanften Stoff des Überzugs und lauschte dem leisen Rascheln der Daunenfedern, das ihre Bewegung erzeugte. Nach wenigen Sekunden fiel Frau Hoffmann in einen tiefen Schlaf. Ihr Körper lag leblos auf der Matratze, eingewickelt in ein Meer aus Federn. Die Nacht fiel über sie hinein und ihr Unterbewusstsein schlich sich in ihre Träume. Es zeigte ihr all die Dinge, die sie nicht sehen wollte, die sie nicht bereit war zu spüren. Und wieder sah sie verdorbenes Fleisch auf edlem Porzellan. Und wieder wagte sie nicht zu atmen, um dem Brechreiz zu entgehen. Und wieder verschwendete Frau Hoffmanns Unterbewusstsein seine kostbare Zeit, denn an die wirren Träume konnte sie sich am kommenden Morgen nicht erinnern. Der Schlaf hatte sie fest in seinen Armen gehalten, so als wollte er sie vor diesen Bildern beschützen. Wenigstens in dieser einen Nacht. Für Frau Hoffmann war es also, als hätte sie die wirren Träume nie gehabt.
Kapitel 22
Frau Hoffmann nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie schaute auf die Uhr, schüttete den Rest in den Ausguss, spülte mit Wasser nach, um eingetrocknete Kaffeeränder zu vermeiden und verließ ihre Wohnung. Die Tatsache, dass sie noch am Leben war, hatte den negativen Nebeneffekt, dass sie Caitlin Connelli nun doch als ihre direkte Vorgesetzte zu akzeptieren hatte. Dieser Gedanke verärgerte Frau Hoffmann. Denn auch, wenn Frau Connelli ihr insgeheim imponierte, so hatte das unter anderem daran gelegen, dass sie sich sicher gewesen war, sie niemals als ihre Chefin anerkennen zu müssen.
Dreiunddreißig Minuten später öffneten sich die Türen des Aufzugs und Frau Hoffmann ging zielstrebig in ihr Büro. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Memorandum. Das schien über Nacht die neue Art der internen Kommunikation geworden zu sein. Das war gewiss Caitlins Idee gewesen. Das hatte man ihr bestimmt vor drei Monaten auf der Universität so beigebracht. Frau Hoffmann schmunzelte über ihre eigene Boshaftigkeit.
Zwanzig Minuten später ging Frau Hoffmann den Flur im siebten Stock entlang. Sie fragte sich, was es dieses Mal für Hiobsbotschaften geben würde. Frau Hoffmann öffnete die Tür. Das Konferenzzimmer war zwar voll, jedoch nicht annähernd so voll wie
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