Renate Hoffmann
am vorherigen Tag.
Frau Hoffmann setzte sich auf einen der freien Plätze und schaute sich um. Sie sah einige der anwesenden zum ersten Mal. Wenige Augenblicke später betrat Caitlin Connelli den Raum. Ihre Aura verschluckte alles, was sie umgab. Frau Hoffmann musterte Caitlin prüfend, in etwa so, wie ein Kenner ein Rennpferd oder einen guten Rotwein begutachten würde. An diesem Tag hatte sie ihr volles, viel zu glänzendes Haar zu einer kompliziert aussehenden Wurst an ihrem Hinterkopf hochgesteckt. Sogar ein Starcoiffeur wäre von dieser Leistung beeindruckt gewesen. Frau Hoffmann dachte kurz an ihre etwas weniger prunkvolle Version einer Hochsteckfrisur, die sie vor einigen Tagen in einem Anfall von Spontaneität kreiert hatte und musste über sich selbst schmunzeln, was ihr eigentlich nie passierte, denn Frau Hoffmann neigte nicht zu Selbstironie. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass man sich um selbstironisch sein zu können, selbst wahrnehmen musste, was Frau Hoffmann die meiste Zeit verbissen zu vermeiden versuchte.
Frau Connelli ging energisch auf und ab. Ihre möchtegernweisen Worthülsen machten Frau Hoffmann unheimlich müde. Es erschien ihr albern sich von einer Frau, die vermutlich zehn Jahre jünger war als sie, kluge Ratschläge erteilen zu lassen. Dennoch versteckte sie ihre kontinuierlichen Gähnanfälle hinter ihrer rechten Hand, denn es schien ihr unpassend es nicht zu tun.
„Ich hätte gerne eine Antwort auf meine Frage“, sagte Caitlin kalt. Die Frau in der vierten Reihe schaute dermaßen verschreckt, dass wieder Leben in Frau Hoffmann einkehrte. Sie setzte sich auf. „Denken Sie, ich rede, weil ich den Klang meiner eigenen Stimme so genieße?“ Frau Hoffmann hielt das durchaus für möglich, sagte aber nichts. Die verschreckte Frau aus der vierten Reihe schüttelte energisch den Kopf. „Warum hören Sie mir dann nicht zu?“, fragte Caitlin gereizt. Die verschreckte Frau schaute verunsichert in ihrem Schoß und schwieg. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würden jeden Augenblick Blitze aus Caitlins blauen Augen schießen, doch dann lächelte sie mechanisch und knüpfte genau da an, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hatte.
Über eine Stunde später, Caitlin steckte inmitten eines weiteren Wortschwalls, bemerkte Frau Hoffmann in der letzten Reihe einen Mann, der sichtlich Mühe hatte seine Augen offen zu halten. Amüsiert beobachtete sie, wie er angestrengt versuchte seinen Kopf in einer aufrechten Position zu halten. Frau Hoffmann konnte das Gewicht seiner Lider förmlich spüren. Und er war nicht der einzige. Die Müdigkeit schien sich über die anwesenden zu legen, wie ein schwerer Umhang. Schmunzelnd verfolgte Frau Hoffmann das schwerfällige Blinzeln einer Frau in der vorletzten Reihe und den schier endlosen Gähnanfall eines Mannes in der zweiten Reihe. Frau Hoffmann wartete auf einen Sturm der Empörung, denn es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch Caitlin die deutlichen Zeichen deren unbeschreiblicher Langeweile bemerken würde.
„Dass ich mit Leuten wie Ihnen zusammen arbeiten muss, ist eine Zumutung!“, schrie Caitlin durch den Raum. Frau Hoffmann sah einigen der Mitarbeiter an, dass sie überlegten etwas zu sagen. Nach wenigen Sekunden jedoch sah sie die Funken rebellischer Widerworte jedoch wieder verpuffen. „Inkompetenz, wohin das Auge reicht!“, polterte Caitlin weiter. In ihrer Wut hatte sich eine rote Haarlocke aus der perfekten Hochsteckwust gelöst und stand schräg zur Seite ab, was sie wie eine kleine Antenne aussehen ließ. „Kein Wunder, dass die finanzielle Situation in diesem Laden so miserabel aussieht!“ Frau Connelli ging auf und ab.
„So miserabel sieht es nun auch wieder nicht aus.“ Alle Gesichter richteten sich auf Frau Hoffmann. Dieser unbedachte Satz war ihr einfach aus dem Mund gefallen. Sie hatte ihn nicht sagen, sondern lediglich denken wollen.
Fassungslos starrte Caitlin sie an. Es war das erste Mal, dass sie Frau Hoffmann bemerkte. „Wie bitte?“ Frau Hoffmann war sich sehr wohl bewusst darüber, dass das eine rein rhetorische Frage gewesen war, und dass Caitlin nicht erwartete, dass sie ihre Aussage wiederholte. Doch dann dachte Frau Hoffmann an ihr Festgeldkonto und an die Tatsache, dass sie der Meinung war, dass sie den Chefposten viel mehr verdient hätte und sagte,
„Ich bin leitende Angestellte der Buchhaltung, und im Gegensatz zu Ihnen habe ich die Bilanzen nicht nur einmal kurz überflogen, sondern
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