Renate Hoffmann
auch die Sonne hätte an der Stimmung nicht wirklich etwas ändern können. Ein Gefühl der absoluten Leere hatte Frau Hoffmann eingenommen, es füllte sie völlig aus. Nichts schien mehr Sinn zu machen. Nichts schien mehr gut.
Frau Hoffmann stand auf. Sie ging in die Küche und trank einen großen Schluck kaltes Wasser direkt aus der Leitung. Sie fragte sich, wie das alles hatte passieren können. Sie fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Henning überlebt hätte. Vielleicht hätte er ihre Bedenken dann endlich ernst genommen. Vielleicht hätte er sich nicht mehr über sie lustig gemacht. Vielleicht würden sie dann noch immer in der Metzstraße wohnen, und nackt auf der Terrasse frühstücken. Vielleicht hätten sie Kinder. Und vielleicht wäre Frau Hoffmann Ärztin geworden und hätte eine Praxis aufgemacht.
Es war inzwischen zwanzig nach vier. Frau Hoffmann wickelte sich in eine Wolldecke und setzte sich auf den Balkon. Als sie sich eine Zigarette anzündete, bemerkte sie, dass auch bei Herrn Peters noch Licht brannte. Sie griff nach dem Fernglas, das auf dem Fenstersims lag und schaute hindurch.
Sie entdeckte Herrn Peters nicht sofort. Er saß auf dem Sofa und telefonierte. Frau Hoffmann versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob es ein angenehmes Telefonat war, konnte es aber auch nach längerem Hinsehen nicht mit Sicherheit sagen. Sie fragte sich, ob er wohl gerade mit einer seiner zahlreichen Geliebten sprach, weil kein normaler Mensch um diese Uhrzeit telefonierte. Dann sagte sie sich, dass es bestimmt die Affäre seines letzten Auslandsaufenthalts sei, und dass es bei ihr sicherlich erst früher Abend wäre.
Frau Hoffmann drückte die Zigarette aus, legte das Fernglas weg und stand auf. Als sie wenig später in den Badezimmerspiegel blickte, inspizierte sie ihre aufgequollenen, brennenden Augen. Und auch, wenn es ihr seltsam erschien, so gefiel ihr dieser Anblick. Es war, als würde man endlich wieder sehen, dass sie Gefühle hatte. Von der harten Frau Hoffmann schien in diesem Moment nichts übrig zu sein. An ihre Stelle war die sanfte Frau Hoffmann getreten. Es würde sicher noch dauern, bis diese das Leben so meistern würde, wie es die harte Frau Hoffmann geschafft hatte, und doch fühlte sie sich wohl bei dem Gedanken, dass sie es endlich zulassen konnte wahrhaftig um Henning zu trauern.
Frau Hoffmann vergrub sich in ihrer Decke. Während sie langsam mit ihren Füßen über den sanften Überzug rieb, dachte sie an das schwarze alte Ledersofa, das sie und Henning viele Jahre zuvor auf einem Flohmarkt gekauft hatten. Sie fragte sich, wem das Sofa heute wohl gehörte und sie fragte sich, ob der neue Besitzer es ebenso liebte, wie sie und Henning es geliebt hatten. Sie dachte daran, wie Henning die Wände ihrer alten Wohnung gestrichen hatte und sie dachte an den Standesamttermin, der schon vereinbart gewesen war. Als ihr letzten Endes die Lider zufielen, ging bereits die Sonne auf. Es war viertel nach sechs.
Kapitel 69
Es war Sonntag. Renate lag auf der Couch und versuchte zu lernen. Der Gedanke Medizin zu studieren hatte im Nachhinein betrachtet nichts mit dem zu tun gehabt, was es hieß, es tatsächlich zu tun. Dies bedeutete nicht, dass Renate ihre Entscheidung bereute, es bedeutete lediglich, dass es ihr viel abverlangte.
Henning stand auf einer Leiter und steckte einen Dübel in die Wand. Renate schaute knapp an ihrem Buch vorbei und beobachtete ihn bei der Arbeit. Er trug eine zerschlissene Jeans, sein Oberkörper war nackt. Sie fühlte sich an ihren ersten Kuss erinnert. Sie inhalierte den süßlichen Duft von Schweiß, der in der Luft lag. Renate legte ihr Buch zur Seite und musterte Henning eindringlich.
„Gibt’s was Neues, wegen der Maschine?“, fragte Renate beiläufig. Henning brummte, was so viel wie nein bedeutete. „Ich dachte, er wollte dir bis gestern Bescheid geben.“
„Das wollte er auch...“
Renate wusste, dass Henning sich nichts sehnlicher wünschte, und doch gefiel ihr der Gedanke nicht. Eigentlich hoffte sie, dass es nicht klappen würde. „Na, und was, wenn es nicht klappt?“, fragte Renate.
„Das klappt...“, sagte Henning angespannt.
„Ich würde alles für sich tun, Nati, alles, nur das nicht...“, sagte Henning und schüttelte seinen Kopf.
Renate schaute ihn wütend an. „Und wann bekommst du sie?“
„Kommende Woche...“, antwortete Henning, während er die Leiter hinauf stieg und ein Bild aufhängte.
„Es ist dir wohl
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