Renate Hoffmann
bereuen würde. Sie würde gehen, und sie würde frei sein.
Kapitel 64
Frau Hoffmann lag mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett. Zwei volle Tage hatte sie nichts anderes getan, als geweint. Sie hatte nicht einmal gegessen, geschweige denn geduscht, oder Zähne geputzt. Die Erkenntnis, dass sie sieben Jahre ihres Lebens damit zugebracht hatte, all die Wut und die Trauer zu unterdrücken, brach unaufhaltsam über sie hinein, und es gab nichts, das diesen Fakt hätte ändern können. Henning hätte das nie gewollt. Er hätte nie gewollt, dass sie seinetwegen aufhört zu leben. Sie war sich sogar sicher, dass er es ihr von ganzem Herzen gegönnt hätte, glücklich zu werden, auch wenn dies bedeutet hätte, dass sie einen anderen Mann kennen und lieben gelernt hätte.
Henning hatte es nie ertragen können Frau Hoffmann leiden zu sehen. Ihr Schmerz war auch seiner gewesen. Und obwohl sie das alles wusste, kam sie nicht gegen die geballte Wut an, die sie ihm gegenüber empfand. Sie versuchte die Trauer zuzulassen, die Wut hingegen zu unterdrücken. Wie konnte sie wütend auf jemanden sein, der tot war? Es war ja nicht so gewesen, dass er absichtlich gestorben war. Es war ein Unfall gewesen, ein tragisches Unglück, für das niemand etwas konnte.
Frau Hoffmann versuchte sich davon zu überzeugen, dass es niemands Schuld gewesen war, sie versuchte sich einzureden, dass solche Dinge eben passierten, und dass man nichts daran ändern konnte. Sie versuchte sich klar zu machen, dass ihre unbändige Wut niemandem etwas brachte. Doch all diese rationalen Versuche führten nicht zu dem erwünschten Resultat. Denn ein anderer Teil in Frau Hoffmann war der Ansicht, dass sehr wohl jemand etwas dafür konnte. Und dieser Jemand war Henning. Es war seine Schuld gewesen.
Frau Hoffmann drehte sich auf den Rücken und betrachtete das Foto, das bis eben neben ihr gelegen hatte. Sie sah eine glückliche, jüngere Version von sich selbst und einen lachenden Henning. Sein Lachen war laut und ansteckend gewesen. Sie hatte es geliebt. Sie hatte ihn geliebt.
Eine Stunde später klingelte erneut das Telefon. Doch Frau Hoffmann würde auch dieses Mal nicht drangehen. Sie hatte es die letzten zwei Tage ignoriert und sie würde es auch dieses Mal ignorieren. Es gab niemanden, mit dem sie hätte sprechen wollen. Und sollte es Herbert sein, der ihr von Barbaras plötzlichem Ableben erzählen wollte, würde sie eine solche Nachricht in diesem Moment ohnehin nicht überstehen.
Frau Hoffmann deckte sich zu. Hennings Foto legte sie auf das separate Kopfkissen neben sich. Schluchzend drehte sie sich auf die Seite und legte ihre Hand auf sein Gesicht. Eine Stunde später erlag sie ihrer eigenen Erschöpfung und schlief ein. Und in dieser Nacht würde sie nicht von verdorbenem Fleisch träumen. Und auch in der darauf folgenden nicht. Frau Hoffmann würde diesen Traum nie wieder träumen. Sie hatte es verstanden. Nach sieben langen Jahren hatte sie es endlich verstanden.
Kapitel 65
Sie schaute Henning vorwurfsvoll an. Doch es war nicht nur ein vorwurfsvoller Blick. All ihre Gefühle wurden auf unbeschreibliche Weise ohne ihr Zutun von ihrem Gesicht ausgedrückt. Die Trauer, die Wut, die Verzweiflung. Seine Augen betrachteten sie sehnsüchtig. Es schien fast so, als würden sie die Tatsache, dass sie ihr Gesicht die vergangenen sieben Jahre nicht hatten ansehen können, mit einem Blick wieder aufzuholen zu versuchen.
Eine Weile standen sie nur da und schauten einander an. Frau Hoffmann konnte nicht einschätzen, ob es Stunden oder Sekunden gewesen waren. Die Zeit schien nicht länger von Bedeutung zu sein. Sie schien relativ und nebensächlich.
Erst in diesem Moment sah Frau Hoffmann, dass Henning einen schwarzen Anzug trug. Sein langes Haar war zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Um seinen breiten Hals hing die Kette, die Frau Hoffmann ihm Jahre zuvor geschenkt hatte. Seine Erscheinung verstörte Frau Hoffmann. Sie konnte sich nicht daran erinnern, Henning jemals in einem schwarzen Anzug gesehen zu haben. Bis auf das eine Mal natürlich.
Er hielt sie fest in den Armen, und obwohl sie sich sicher und geborgen fühlte, war da etwas in ihr, dass sich nicht von ihm halten lassen wollte. Dieser Teil wehrte sich gegen diese Art von Nähe und Zuneigung, die er ihr zu schenken versuchte. Dieser Teil war verspannt und nervös. Er war wütend und voller Vorwürfe.
Frau Hoffmann versuchte sich auf das Gefühl zu konzentrieren, ihn
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