Renate Hoffmann
Henning hatte sie wenige Stunden zuvor noch geküsst. Sie hatten gemeinsam gegessen. Er hatte geatmet.
Sie schaute auf die Uhr. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn so zu sehen. Doch es schien keine andere Möglichkeit zu geben. Sie würde Henning identifizieren, auch wenn das unnötig war. Es stimmte. Henning war tot. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob nicht vielleicht doch ein Irrtum vorliegen könnte, doch dann dachte sie an die akkurate Beschreibung der Tätowierungen, die ihr der Polizeibeamte durchgegeben hatte. Es bestand kein Zweifel. Das Unfallopfer war Henning.
Renate griff nach dem Telefonhörer. Sie wollte mit jemandem sprechen, doch sie wusste nicht, wen sie hätte anrufen sollen. Da war niemand mehr. Kurz spielte sie mit dem Gedanken ihre Schwester anzurufen, doch das kam nicht in Frage. Barbara hätte ihr nicht helfen können, und wenn doch, wäre Renate zu stolz gewesen ihre Hilfe anzunehmen.
Das Geschirr stand noch immer auf den Esstisch, die Einkäufe lagen in der Küche verstreut. Renate öffnete eine Packung gesalzener Nüsse. Nachdem sie sich jedoch eine Hand voll in den Mund gesteckt hatte, zog sich ihr Magen zusammen und sie lief würgend ins Bad, wo sie sich fast zwanzig Minuten lang übergab.
Da Renate nicht wusste, wo genau die Gerichtsmedizin war, nahm sie ein Taxi. Der Fahrer schaute immer wieder bestürzt in den Rückspiegel. Er schien in der leere ihres Gesichts lesen zu können. Er schien zu wissen, dass das, was sie gleich tun würde mit Abstand das schrecklichste war, das man sich vorstellen konnte. Als sie ausstieg trafen sich ihre Blicke. Renate streckte ihm das abgezählte Geld entgegen, was er jedoch kopfschüttelnd ablehnte. Er sprach ihr sein herzliches Beileid aus und fuhr davon. Ein paar Sekunden lang stand sie nur da, das abgezählte Geld noch immer in der Hand. Der ekelerregende Nachgeschmack der Magensäure haftete noch immer penetrant in ihrem Mund, obwohl sie mehrfach Zähne geputzt hatte.
Renate war leer. Es schien so, als wäre nichts mehr von ihr übrig. So, als hätte sie den letzten Rest ihrer selbst vor einer halben Stunde aus sich heraus gewürgt und anschließend hinunter gespült. Denn auch, wenn man es nicht sehen konnte, weil sie atmete und sich bewegte, so war Renate an diesem eisigen Novembertag gestorben und Frau Hoffmann wurde geboren. Sie würde leben, jedoch ohne lebendig zu sein.
Kapitel 100
„Hast du am Weiher eigentlich wirklich mit Henning geschlafen?“ Frau Hoffmann nickte. „Aber du kanntest ihn doch gar nicht...“
„Ich musste ihn nicht kennen“, entgegnete Frau Hoffmann.
„Du konntest nicht anders...“, sagte Barbara lächelnd.
„So ist es...“, antwortete Frau Hoffmann, „...ich konnte nicht anders...“
Es war inzwischen Abend geworden. Die letzten Sonnenstrahlen malten Muster an die Wände. „Musst du denn schon heute wieder fahren?“
Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich fahre morgen...“
Barbara schien erleichtert. „Renate?“
„Hm?“
„Denkst du, du wirst mir jemals verzeihen können?“
Frau Hoffmann schaute in die matten Augen ihrer kleinen Schwester. „Ich werde es versuchen...“, sagte sie und streichelte über Barbaras Hand.
Frau Hoffmann saß an einem rustikalen Holztisch, der ihrer Meinung nach perfekt zu Herbert passte. Herbert setzte sich zu ihr und gemeinsam aßen sie zu Abend. „Peter und Melanie dürften jeden Moment nach Hause kommen...“
„Peter und Melanie?“, fragte Frau Hoffmann.
„Ja...“, sagte Herbert betreten, „...unsere Kinder...“ In seiner Stimme hörte Frau Hoffmann einen Hauch von Bedauern.
„Ich wusste nicht, dass ihr Kinder habt...“
„Ich hatte überlegt, dir zu ihrer Geburt zu schreiben, doch Barbara wollte das nicht...“
„Verstehe...“, sagte Frau Hoffmann und lächelte.
„Sie dachte über Jahre, dass ich dich noch immer heimlich liebe.“
„Ja, das hat sie gesagt...“
Herbert schaute ihr tief in die Augen. „Das schlimmste ist, dass sie damit nicht Unrecht hatte...“
Frau Hoffmann schaute auf die Tischplatte. Sie hoffte, dass es endlich klingeln würde, damit sie nicht weiter über dieses Thema sprechen müssten. „Wo sind Peter und Melanie denn eigentlich?“, fragte sie gespielt interessiert.
„Sie sind bei meinen Eltern... Möchtest du auch ein Glas Wein?“
Frau Hoffmann war dankbar für diese Frage, denn sie wusste nicht, wie sie diesen Abend ohne Alkohol hätte überleben sollen. „Ein Glas Wein wäre wirklich
Weitere Kostenlose Bücher