Renate Hoffmann
auch, als sie die letzten Meter zum Telefon ging. Und auch als sie den Hörer abnahm. Denn bis zu diesem Augenblick war alles noch normal gewesen. Die Zukunft lag schillernd vor ihr. Bis zu dem Moment als sie den Hörer von der Gabel nahm und alles seinen Sinn verlor.
Kapitel 97
„Du bist tatsächlich gekommen...“ Frau Hoffmann blickte in das farblose Gesicht ihrer Schwester. „Du siehst gut aus...“, sagte Barbara und setzte sich schwerfällig auf. Frau Hoffmann hätte ihr gerne dasselbe gesagt, doch es gab nichts an Barbara, das gut aussah. Ihre blauen Augen schienen matt und waren von grauen Schatten unterlegt, ihre Lippen waren rissig und trocken, ihre Nase war rot und geschwollen, ihr Haar umrahmte fettig und strähnig ihr fahles Gesicht.
„Herbert meinte, es würde dir viel bedeuten mich zu sehen“, sagte Frau Hoffmann distanziert, „hier bin ich...“
Barbara betrachtete das Gesicht ihrer älteren Schwester. Sie schien nach Anzeichen der Alterung zu suchen, konnte jedoch keine entdecken. „Ich wollte mich entschuldigen, bevor ich sterbe...“ Frau Hoffmann wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. „Ich ertrage die Gewissensbisse nicht mehr, ich ertrage es nicht mehr, mich immer fragen zu müssen, ob er mich je geliebt hat, oder ob ich einfach nur praktisch war, nachdem du ihn verlassen hast...“ Frau Hoffmann setzte sich neben ihre Schwester. „Es gibt so viel, das ich bereue. Ich bereue, dass ich nie mit dir gesprochen habe...“
„Worüber?“
„Na, über meine Gefühle für Herbert...“
Frau Hoffmann wusste, warum sie es nicht getan hatte. Es hätte keinen Sinn gemacht. „Ich hätte es an deiner Stelle auch nicht gesagt...“
„Erinnerst du dich noch, dass ich dir einmal davon erzählt habe, dass ich mich verliebt habe?“ Frau Hoffmann nickte. „Du wolltest den Namen wissen, weißt du noch?“
„Und das war Herbert?“ Barbara nickte. „Verstehe...“ Es muss schrecklich für sie gewesen sein.
„Und dann eines Abends kommst du nach Hause und stellst ihn uns als deinen Freund vor...“ Barbara griff nach einer Tasse, die auf ihrem Nachkästchen stand.
„Du musst mich gehasst haben...“
Barbara nahm einen Schluck inzwischen kalten Tee und stellte die Tasse wieder ab. „Ich habe dich gehasst, obwohl du nichts dafür konntest...“
„Ich bin mir sicher, dass Herbert dich liebt...“
„Ja, jetzt vielleicht... aber sicher nicht gleich.“ Frau Hoffmann konnte dazu nichts sagen, sie war schließlich nicht dabei gewesen. „Dich hat er wirklich geliebt...“
„Was macht dich da so sicher?“, fragte Frau Hoffmann, die im tiefsten Inneren genau wusste, dass Barbara recht hatte. Sie hatte an Herberts Gefühlen ihr gegenüber nie gezweifelt. Nicht einen Tag.
„Ich wusste es an der Art, wie er dich immer in Schutz genommen hat, und das sogar nachdem du ihn eiskalt wegen eines anderen verlassen hattest...“
„Sein Name war Henning...“, sagte Frau Hoffmann kühl.
Barbara schaute betreten in ihre Handflächen. „Wart ihr eigentlich verheiratet, Henning und du?“ Frau Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ihr habt nicht einmal darüber nachgedacht?“
„Wir hatten vor im Mai zu heiraten, aber dazu ist es nicht gekommen...“, antwortete Frau Hoffmann knapp.
„Ich wäre gerne für dich da gewesen...“, sagte Barbara mit Tränen in den Augen.
„Ich wollte deine Anteilnahme nicht...“, sagte Frau Hoffmann reserviert.
„Renate, ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe, ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe, aber meine Anteilnahme war ehrlich gemeint...“
„Das mag sein...“, antwortete Frau Hoffmann seufzend, „...aber zu Hennings Lebzeiten wollte keiner von euch etwas von ihm oder mir wissen... Helga und Günther haben mich damals vor die Wahl gestellt, mich entweder bei Herbert zu entschuldigen und ihn zu heiraten, oder zu gehen... Ich bin gegangen...“ In diesem Augenblick fragte sich Frau Hoffman warum sie überhaupt dort war. Sie fragte sich, warum in aller Welt sie in diesem Moment am Krankenbett ihrer Schwester saß, einer Schwester, die sie hintergangen und gemieden hatte.
„Wie ist es passiert?“, fragte Barbara.
„Was meinst du?“
„Wie ist Henning gestorben?“
Frau Hoffmann wollte es ihr nicht sagen. Es kam ihr vor, als würde sie einer völlig Fremden ihre Geschichte erzählen. „Es war ein Motorradunfall...“
Kapitel 98
Herbert stellte ein Tablett mit frischen Semmeln und zwei Gläsern Saft auf einen kleinen
Weitere Kostenlose Bücher