Renate Hoffmann
Beistelltisch, dann küsste er Barbara auf die Wange und verließ das Zimmer. „Weißt du, was mich noch immer fertig macht?“, fragte sie und reichte Frau Hoffmann das vollere der beiden Gläser. „Nein, was?“
„Die Tatsache, dass du mit ihm geschlafen hast...“
„Das ist wirklich lange her“, sagte Frau Hoffmann.
„Ja, schon, aber ihr hattet Sex... mein Mann und meine Schwester...“
„Du hättest ihn ja nicht heiraten müssen“, sagte Frau Hoffmann und nahm einen Schluck Saft.
„Du hast immer gesagt, dass du bis zur Hochzeit warten wolltest...“
„Ach, du hast doch keine Ahnung...“ sagte Frau Hoffmann und stand auf.
Barbara schaute sie entgeistert an. „Wo willst du hin?“
„Ich werde gehen...“, sagte Frau Hoffmann aufgebracht.
„Aber warum?“
„Ich bin nicht hergekommen, um mich zu rechtfertigen. Schon gar nicht vor einer Person wie dir...“
„Einer Person wie mir?“, fragte Barbara mit hochgezogenen Brauen.
„Ganz recht, einer Person wie dir...“
„Und was soll das bitte heißen?“
„Du hast von meinem Leben keine Ahnung, du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, du hast keine Ahnung, wie es ist von der eigenen Familie verstoßen zu werden, du weißt nicht, wie es sich anfühlt, wenn der eine Mensch, den man über alles liebt aus heiterem Himmel stirbt, du weißt nicht, wie es ist, wenn man darüber nachdenkt sich vom Balkon zu stürzen, weil man die Einsamkeit einfach nicht mehr aushält...“ Große Tränen liefen über Barbaras Gesicht. Sie schien nach Worten zu suchen, die auszudrücken vermochten, wie unbeschreiblich Leid es ihr tue, dass sie so gelitten hatte. Sie schien ihr sagen zu wollen, dass sie sich dafür schämte ihr nicht zur Seite gestanden zu haben, doch alles, was sie in diesem Moment fertigbrachte, war zu weinen, und ihre Tränen schafften es all das zu sagen, wofür ihr die Worte fehlten.
„Wann war dir klar, dass du Herbert nicht mehr geliebt hast?“, fragte Barbara eine Stunde und zwei Semmeln später. Frau Hoffmann wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, ob sie ihr die ganze Wahrheit sagen, oder sich etwas Plausibles aus den Fingern saugen sollte. „Du hast ihn doch geliebt?“, fragte Barbara.
Frau Hoffmann schaute sie lange an. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass es keine Rolle mehr spielte. Sollte Barbara sie bitten zu gehen, dann würde sie eben gehen. Doch lügen würde sie nicht. „Ich habe Herbert nie geliebt...“
Fassungslos starrte Barbara sie an. „Du hast ihn nicht geliebt? Nicht einmal am Anfang?“
„Nein, nicht einmal am Anfang...“
„Ich bin nicht stolz darauf...“, sagte Frau Hoffmann und seufzte, „... aber das ist die Wahrheit...“
„Warum hast du dann mit ihm geschlafen?“
„Ich finde die Frage viel interessanter, warum ich drei Jahre lang nicht mit ihm geschlafen habe...“
„Ich dachte, du wolltest warten...“
„Denkst du wirklich, dass das der Grund war?“, fragte Frau Hoffmann und biss von einer Semmel ab.
„Wieso hast du ihn nicht verlassen? Wieso hast du seinen Antrag angenommen?“
„Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?“ Barbara holte Luft um etwas zu sagen, sagte aber nichts. „Ich weiß, dass das schäbig war, aber ich wollte Herbert nicht wehtun, ich hatte ihn wirklich gern... nur geliebt hab ich ihn nicht...“
„Als ich ihn gefragt habe, wie es war mit dir zu schlafen, hat er gesagt, es wäre wunderschön gewesen...“
Frau Hoffmann konnte nicht verstehen, warum er ihr das gesagt hatte, sogar dann wenn es stimmte, war es nicht besonders taktvoll. „Ich fand es grauenhaft...“, sagte Frau Hoffmann, die der bloße Gedanke daran anwiderte.
„Grauenhaft? Ehrlich?“ Barbara musste lachen. Es war schön sie lachen zu sehen.
„Sagen wir so...“, sagte Frau Hoffmann, „...ich wünschte wirklich, ich hätte es nicht getan...“
Kapitel 99
Fassungslos hielt sie den Hörer in der Hand. Jeder Atemzug schmerzte. Die Tatsache, dass sie am Leben war, schien nicht länger von Bedeutung zu sein. Nichts schien mehr etwas zu bedeuten. Und doch weinte sie nicht. Ihre Augen waren trocken, auch wenn ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen.
Völlig betäubt legte sie den Hörer auf die Gabel. Ihr Blick fiel auf die Einkäufe. Da standen Hennings Lieblingsjoghurts und die Salami, die er am liebsten mochte, und die gesalzenen Nüsse. Renate wollte weinen, doch sie konnte nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie es nicht begreifen konnte.
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