Rendezvous im Hyde Park
Verdammt.
„Wir könnten ihn in den Salon bringen", schlug sie vor.
„Oder sonst irgendwohin, wo es etwas zu trinken gibt. Wenn er betrunken war, hätte er vielleicht umfallen können." Sie schluckte. „Und sich den Kopf anschlagen?"
Sebastian atmete schwer, stemmte die Hände in die Hüften und blickte auf seinen Onkel hinunter. Tot sah er sogar noch schrecklicher aus als lebendig. Groß, aufgequollen ...
Wenigstens würde niemand bezweifeln, dass ihn sein Herz im Stich gelassen hatte, vor allem nach all den Aufregun-gen an diesem Tag. „Sein Kopf, sein Herz", brummte er. „Ist doch einerlei. Ich fühle mich schon ungesund; wenn ich ihn nur ansehe."
Er blieb noch einen Moment still stehen, zögerte das Unvermeidliche hinaus, straffte dann schließlich die Schultern und sage: „Ich nehme ihn unter den Armen. Nimm du die Beine. Erst müssen wir ihn aber noch umdrehen."
Sie rollten ihn auf den Rücken, nahmen ihre Plätze ein und versuchten ihn hochzuheben. „Lieber Gott im Himmel", stöhnte Sebastian.
„Das schaffen wir nie", sagte Annabel.
„Wir müssen es schaffen."
Sie zerrten und zogen, vor Anstrengung schwer schnaufend, aber sie bekamen die Leiche nicht mehr als ein paar Zentimeter vom Boden hoch. Sie würden ihn nie in den Salon schaffen können, ohne so viel Lärm zu machen, dass jemand aufwachte.
„Wir werden Edward holen müssen", sagte Sebastian schließlich.
Annabel sah ihn fragend an.
„Ich würde ihm mein Leben anvertrauen."
Sie nickte. „Wie wäre es, wenn Louisa ..."
„Die kann doch keine Feder heben."
„Ich glaube, sie ist stärker, als sie aussieht." Aber Annabel erkannte, dass sie sich die Sache vielleicht ein wenig schönredete. Sie biss sich auf die Lippen und sah wieder auf Newbury hinab. „Ich denke, wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können."
Sebastian begann zu nicken, denn sie brauchten tatsächlich alle Hilfe, die sie bekommen konnten. Aber wie sich herausstellte, erschien diese Hilfe in äußerst überraschender Gestalt...
Was zum Teufel geht hier vor?"
Annabel erstarrte. Nicht vor Schreck. Es war etwas viel, viel Schlimmeres als Schreck.
„Annabel?", stieß ihre Großmutter hervor und marschierte durch die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern.
„Es klingt, als wäre hier eine Herde Elefanten unterwegs.
Wie soll eine Frau da etwas Schlaf bekommen wenn ... Oh."
Sie blieb abrupt stehen und fasste Sebastian ins Auge. Dann blickte sie zu Boden und entdeckte den Earl. „Verdammt und zugenäht!"
Sie stieß ein Geräusch aus, das Annabel nicht ganz einordnen konnte. Es war kein Seufzer, eher ein Knurren. Ein äußerst erzürntes Knurren.
„Wer von euch beiden hat ihn getötet?", fragte sie.
„Keiner", erwiderte Annabel rasch. „Er ist einfach ... gestorben."
„In deinem Zimmer?"
„Ich habe ihn nicht eingeladen", stieß sie hervor.
„Nein, wohl nicht." Ihre Großmutter klang dabei fast bedauernd. Annabel konnte sie nur schockiert anstarren. Oder vielleicht eher fassungslos.
„Und was haben Sie hier zu suchen?", fragte Lady Vickers und bedachte Sebastian mit einem eisigen Blick.
„Genau das, was Sie denken, Mylady", erwiderte er. „Leider war der Zeitpunkt etwas unglücklich gewählt." Er sah auf seinen Onkel hinunter. „Er lag schon so da, als ich reinkam."
„So ist es auch besser", brummte Lady Vickers. „Wenn er hereingekommen wäre und Sie auf ihr erwischt hätte ...
Lieber Himmel, das Theater kann ich mir gar nicht vorstellen."
Eigentlich müsste ich jetzt erröten, dachte Annabel.
Aber sie brachte nicht genügend Willenskraft dazu auf. Sie glaubte fast, dass sie im Moment nichts mehr in Verlegenheit bringen konnte.
„Also, wir müssen ihn loswerden", sagte ihre Großmutter in einem Ton, den sie wohl auch bei einem alten Sofa angeschlagen hätte. Sie nickte zu Annabel. „Ich muss sagen, für dich hat sich am Ende ja doch alles zum Besten gewendet."
„Was redest du denn da?", fragte Annabel entsetzt.
„Er ist doch jetzt der Earl", erwiderte Lady Vickers und deutete auf Sebastian. „Und er ist ein ganzes Stück appetitlicher als unser Robert hier."
Robert, dachte Annabel und sah auf Lord Newbury hinunter. Sie hatte seinen Vornamen nicht einmal gekannt.
Irgendwie war die ganze Geschichte höchst seltsam. Der Mann hatte sie heiraten wollen, hatte sie dann angegriffen, und nun war er zu ihren Füßen gestorben. Und sie hatte nicht einmal seinen Vornamen gekannt.
Einen Augenblick sahen alle auf ihn hinab.
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