Rendezvous im Hyde Park
antworten. Sie zermarterte sich den Kopf nach etwas, was sie sagen konnte, womit sie unauffällig das Thema hätte wechseln können. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, sah auf die Uhr, und dann ...
„Er will einen Erben", sagte Mr Grey.
„Ich weiß", sagte sie leise.
„Und zwar so schnell wie möglich."
„Ich weiß."
„Die meisten jungen Damen würden sich von seinen Aufmerksamkeiten geschmeichelt fühlen."
Sie seufzte. „Ich weiß." Und dann sah sie auf und lächelte.
Es war eines jener verlegenen Lächeln, die zu drei Vierteln aus Nervosität bestanden. „Bin ich ja auch", sagte sie. Sie schluckte. „Geschmeichelt, meine ich."
„Natürlich", murmelte er.
Annabel stand still, versuchte, nicht mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Eine weitere Angewohnheit von ihr, die ihre Großmutter beklagenswert fand. Aber es fiel ihr so schwer, still zu stehen, wenn sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte. „Die Frage ist ohnehin rein akademisch", sagte sie eilig. „Er hat uns nicht besucht. Vermutlich versucht er sein Glück bei einer anderen."
„Wofür Sie hoffentlich dankbar sind", sagte Mr Grey ruhig. Sie antwortete nicht. Sie konnte einfach nicht. Weil sie tatsächlich dankbar war. Und nicht nur dankbar, sondern auch erleichtert. Und gleichzeitig hatte sie ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil sie so empfand. Wenn sie den Earl geheiratet hätte, wäre ihre ganze Familie gerettet gewesen.
Sie sollte nicht dankbar sein - sie sollte außer sich sein vor Kummer, dass aus dieser Partie nun nichts wurde.
„Mr Gre-ey! ". trillerte ihre Großmutter vom Sofa.
„Lady Vickers", sagte er verbindlich und ging zurück zur Sitzgruppe. Allerdings nahm er nicht dort Platz.
„Wir finden, dass Sie meiner Enkelin den Hof machen sollten", verkündete sie.
Annabel spürte, wie sie dunkelrot anlief, und hätte sich am liebsten unter dem nächstbesten Stuhl verkrochen, doch dann stieg Panik in ihr auf. Sie rannte zu den anderen und rief: „Oh, Großmutter, das kann doch nicht dein Ernst sein!"
Und zu Mr Grey gewandt: „Es ist nicht ihr Ernst."
„Es ist mein Ernst", erklärte ihre Großmutter kurz und bündig. „Es ist der einzige Weg."
„O nein, Mr Grey", wandte Annabel ein, außer sich vor Scham, dass man ihm befahl, sie zu umwerben. „Bitte glauben Sie doch nicht..."
„Bin ich so schlimm?", fragte er trocken.
„Nein! Nein. Ich meine, nein, Sie wissen das ganz genau."
„Nun, ich hatte gehofft...", murmelte er.
Hilfe suchend blickte Annabel zu den beiden anderen Damen, doch sie boten ihr keine an.
„Sie trifft an alledem keine Schuld", sagte Annabel entschieden.
„Trotzdem", erwiderte er großartig, „ich kann nicht untätig danebenstehen, wenn eine Dame in Not ist. Was würde das über mich als Gentleman aussagen?"
Annabel sah Lady Olivia an. Sie lächelte auf eine Art, die sie beunruhigend fand.
„Es ist natürlich nicht ernst", erklärte Lady Vickers.
„Alles nur Theater. Am Ende des Monats können sich eure Wege wieder trennen. In bestem Einvernehmen natürlich."
Sie grinste durchtrieben. „Wir würden es sehr bedauern, wenn Mr Grey das Gefühl hätte, er wäre in Vickers House nicht willkommen."
Annabel warf dem fraglichen Herrn einen verstohlenen Blick zu. Er wirkte ein wenig benommen.
„Bitte setzen Sie sich wieder", sagte Lady Vickers und klopfte auf den Platz neben sich. „Sie geben mir sonst das Gefühl, eine sehr schlechte Gastgeberin zu sein."
„Nein!", platzte Annabel heraus, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche Folgen dieses eine Wörtchen nach sich ziehen könnte.
„Nein?", wiederholte ihre Großmutter.
„Wir sollten spazieren gehen", erklärte Annabel.
„Sollten wir das?", fragte Mr Grey. „Oh, das sollten wir."
„Das solltet ihr allerdings", bekräftigte Lady Olivia.
„Das Wetter ist schön", sagte Annabel.
„Und alle werden uns sehen und sich denken, dass wir ein Paar sind", schloss Mr Grey. Eilfertig ergriff er Annabels Arm und verkündete: „Also gehen wir!"
Sie eilten aus dem Zimmer und wechselten kein Wort, bis sie die Außentreppe erreicht hatten. Dort drehte Mr Grey sich zu ihr und stieß ein tief empfundenes „Dankeschön!" aus. „Gern geschehen", erwiderte Annabel und trat leichtfüßig auf den Gehweg. Sie wandte sich noch einmal zurück und erklärte: „Der Sinn meines Lebens besteht darin, Gentlemen in Not zu Hilfe zu eilen."
Bevor Sebastian mit einer schlagfertigen
Bemerkung reagieren konnte, ging
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