Rendezvous im Hyde Park
lebhaft vorstellen. Die meisten würden sagen, dass Miss Winslow ihre Ziele zu hoch gesteckt hatte. Nichts liebte die Gesellschaft mehr, als dem Sturz einer ehrgeizigen Zeitgenossin beizuwohnen.
„Im Moment besuchen sie die Leute aus Neugierde", sagte Olivia. „Und", fügte sie hinzu und kniff vielsagend die Augen zusammen, „aus Grausamkeit. Aber glaub mir, Sebastian - wenn das alles vorbei ist, wird keiner sie mehr haben wollen. Es sei denn, du bringst alles jetzt gleich in Ordnung."
„Bitte sag mir, dass ich ihr dafür keinen Heiratsantrag zu machen brauche", sagte er. Denn so entzückend Miss Winslow auch war, so danebenbenommen hatte er sich auch nicht, dass dies erforderlich gewesen wäre.
„Natürlich nicht", sagte Olivia. „Du musst sie einfach nur besuchen. Der Gesellschaft zeigen, dass du sie immer noch reizend findest. Und du musst dabei peinlich genau den Anstand wahren. Wenn du irgendetwas tust, was auch nur den Hauch der Verführung hat, ist sie ruiniert."
Sebastian war drauf und dran, einen seiner frivolen Kommentare abzugeben, doch in ihm breitete sich leise Entrüstung aus, die sich nicht mehr verleugnen ließ, als er schließlich den Mund aufmachte. „Wie kommt es", wollte er wissen, „dass Leute - Leute, möchte ich hinzufügen, die mich schon seit Jahren, ja Jahrzehnten kennen - mir zutrauen, dass ich eine unschuldige junge Dame aus Rache verführe?"
Er wartete einen Augenblick, doch darauf wusste Olivia keine Antwort. Harry, der die Zeitung inzwischen hin-gelegt hatte und dem Gespräch offen folgte, anscheinend auch nicht.
„Das ist nicht nur so dahingesagt", erklärte Sebastian zornig. „Habe ich mir je etwas zuschulden kommen lassen, was ein solches Verhalten nahelegen würde? Was habe ich getan, dass ich hier wie ein rücksichtsloser Schurke dargestellt werde? Denn ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung habe. Wisst ihr eigentlich, dass ich niemals mit einer Jungfrau geschlafen habe?" Diese Frage richtete er an Olivia, hauptsächlich, weil es ihm gerade recht kam, andere zu schockieren und vor den Kopf zu stoßen. „Nicht mal, als ich noch Jungfrau war?"
„Sebastian, es reicht", erklärte Harry ruhig.
„Nein, das finde ich nicht. Was glauben die Leute eigentlich, was ich mit Miss Winslow vorhabe, wenn ich sie denn verführt habe? Sie verstoßen? Sie umbringen und die Leiche in die Themse werfen?"
Einen Augenblick konnten ihn die anderen nur anstarren. Sebastian hatte die Stimme nicht mehr erhoben, seit...
Seit...
Seit Urzeiten. Sogar Harry, der ihn seit der Kindheit kannte und mit ihm auf dem Internat und in der Armee gewesen war, hatte nie gehört, dass er die Stimme erhoben hätte.
„Sebastian", sagte Olivia sanft. Sie griff über den Tisch und legte ihre Hand auf seine, doch er schüttelte sie ab.
„Denkt ihr so von mir?", fragte er.
„Nein!", sagte sie und sah ihn erschrocken an. „Natürlich nicht. Aber ich kenne dich auch. Und ... Wohin gehst du?"
Er war bereits aufgestanden und war unterwegs zur Tür.
„Zu Miss Winslow", fuhr er sie an.
„In dieser Stimmung lieber nicht", meinte sie und sprang auf. Sebastian blieb abrupt stehen und warf ihr einen Blick zu.
„Ich ... ähm ..." Sie sah zu Harry hinüber, der sich ebenfalls erhoben hatte. Er beantwortete ihre stille Frage, indem er eine Braue hob und zur Tür nickte.
„Vielleicht sollte ich dich begleiten", meinte Olivia. Sie schluckte und legte rasch die Hand auf Sebastians Arm.
„Dann wirkt es noch einwandfreier, findest du nicht?"
Sebastian rückte ihr knapp zu, aber in Wirklichkeit wusste er nicht mehr, was er denken sollte. Vielleicht war es ihm auch einfach egal.
Brandy?", fragte Lady Vickers und hielt ihr ein Glas hin.
Annabel schüttelte den Kopf. Vormittags
kam ihre Großmutter nie ohne einen ordentlichen Stärkungstrunk zurecht. Doch nachdem Annabel zwei Tage lang mit ihr zusammen Morgenbesuch empfangen hatte, wusste sie nun aus Erfahrung, dass es besser war, sich bis zum Dinner an Limonade und Tee zu halten. „Ich bekomme Magenschmerzen davon", sagte sie.
„Davon?", fragte Lady Vickers und beäugte das Glas neugierig. „Wie seltsam. Mich beruhigt es ungemein."
Annabel nickte. Eine andere Antwort gab es nicht. So viel Zeit wie in den letzten paar Tagen hatte sie mit Lady Vickers den ganzen Monat nicht verbracht. Als ihre Großmutter ihr geraten hatte, dem Skandal wie eine Dame zu begegnen, hatte sie das auch auf sich selbst bezogen; in ihrem Fall hieß das, sich wie Kleister
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