Rendezvous im Hyde Park
Ausgaben hier. Harry schreibt manchmal etwas ins Buch, deswegen müssen wir immer wieder nachkaufen." Sie öffnete ein kleines Schränkchen und bückte sich, um hineinzusehen. „Ach herrje, ich vergesse immer, dass. ich ein bisschen unbeweglich werde."
Annabel wollte aufstehen. „Brauchen Sie Hilfe?"
„Nein, nein." Mit leisem Stöhnen richtete sie sich auf.
„Hier habe ich etwas. Miss Sainsbury und der mysteriöse Oberst. Ich glaube, das ist Mrs Gorelys erstes Meisterwerk."
„Danke." Annabel nahm das Buch und betrachtete es, strich über die Goldlettern auf dem Titel. Sie schlug es auf und las den Anfang.
Das schräge Licht der Dämmerung drang durch die Scheibe und fiel auf Miss Anne Sainsbury, die sich unter ihrer dünnen Decke zusammenrollte und sich wie schon so oft fragte, woher sie das Geld für die nächste Mahlzeit nehmen sollte. Sie blickte auf ihren treuen Collie hinab, der brav auf dem Teppich vor dem Bett lag. Die Zeit war gekommen, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. Das Leben ihrer Geschwister stand auf dem Spiel.
Sie schlug es zu.
„Stimmt etwas nicht?"
„Nein, nur... nichts." Annabel trank noch etwas Tee.
Sie war sich nicht sicher, ob sie in diesem Augenblick von einem jungen Mädchen lesen wollte, das folgenschwere Ent-scheidungen traf. Vor allem nicht eines, das Geschwister zu versorgen hatte. „Ich glaube, ich lese es später", sagte sie.
„Wenn Sie jetzt ein wenig lesen möchten, lasse ich Sie gern in Ruhe", sagte Olivia. „Ich könnte mich auch zu Ihnen setzen. Ich habe die Zeitimg von heute erst halb durch."
„Nein, nein. Ich fange heute Abend damit an." Sie lächelte kläglich. „Es wird eine willkommene Abwechslung sein."
Olivia wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick hörten sie, wie jemand das Haus betrat.
„Harry?", rief Olivia.
„Es bin leider nur ich."
Annabel erstarrte. Es war Mr Grey.
„Sebastian!", rief Olivia aus und warf Annabel einen nervösen Blick zu. Annabel schüttelte panisch den Kopf.
Sie wollte ihn nicht sehen. Nicht jetzt, wo sie sich so verletzlich fühlte.
„Sebastian, ich habe dich gar nicht erwartet", sagte Olivia und lief zur Tür.
Er kam herein, beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange. „Seit wann erwartest du mich? Oder auch nicht?"
Annabel sank auf ihrem Platz zusammen. Vielleicht sah er sie nicht. Ihr Kleid war beinahe vom selben Blau wie das Sofa. Vielleicht würde sie gar nicht weiter auffallen. Vielleicht war er blind geworden, weil er tagelang geschielt hatte. Vielleicht...
„Annabel? Miss Winslow?"
Sie lächelte schwach.
„Was machen Sie hier?" Er kam eilig durchs Zimmer, die Stirn sorgenzerfurcht. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?"
Annabel schüttelte den Kopf. Sie brachte keinen Ton heraus. Eigentlich hatte sie gedacht, sie hätte sich im Griff.
Liebe Güte, mit Olivia hatte sie sogar gelacht. Aber ein Blick auf Mr Grey genügte, dass alles, was sie so verzweifelt zu unterdrücken versuchte, an die Oberfläche stieg, ihr in den Augen brannte und ihr die Kehle zuschnürte.
„Annabel?", fragte er und kniete vor ihr nieder. Sie brach in Tränen aus.
Sebastian hatte Annabel am Vorabend nur noch einmal kurz gesehen, nach ihrem Tanz mit seinem Onkel. Ihr Blick war verschlossen gewesen, und sie hatte kleinlaut gewirkt, aber auf das hier war er wirklich nicht vorbereitet gewesen. Sie schluchzte, als würde jeden Moment die Welt über ihr zusammenbrechen.
Sebastian hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand in den Magen geboxt.
„Lieber Gott", sagte er, an Olivia gewandt, „was ist ihr denn passiert?"
Olivia spitzte die Lippen und sagte gar nichts. Sie nickte nur zu Annabel hinüber. Sebastian hatte das Gefühl, er habe soeben einen Rüffel bekommen.
„Es ist nichts", weinte Annabel.
„Es ist nicht nichts", erklärte er. Er sah noch einmal zu Olivia, warf ihr einen drängenden - und verärgerten - Blick zu. „Es ist nicht nichts", bestätigte Olivia.
Sebastian fluchte verhalten. „Was hat Newbury getan?"
„Nichts", erklärte Annabel und schüttelte den Kopf. „Er hat nichts gemacht, weil... weil..."
Sebastian schluckte. Ihm gefiel das mulmige Gefühl nicht, das sich in seinem Magen ausbreitete. Sein Onkel war zwar nicht für Niedertracht oder Grausamkeit berüchtigt, aber es gab auch keine Frau, die Grund gehabt hätte, ihn sanftmütig zu nennen. Newbury war die Sorte Mensch, die anderen aus purer Gedankenlosigkeit oder, genauer gesagt, Selbstsucht Schmerzen zufügten. Er
Weitere Kostenlose Bücher