Rendezvous im Hyde Park
attraktiven und unwahrscheinlich reichen Edelmann auf sich gezogen hatte. Strahlend vor Glück würde sie ihn dann zu Hause präsentieren, und er würde sie mit Geld überhäufen und damit all ihre Probleme lösen.
Stattdessen hatte Annabel einen unglaublich reichen, unwahrscheinlich ekelhaften Edelmann vorzuweisen und einen höchstwahrscheinlich armen, unglaublich attraktiven Spitzbuben. Der Gefühle in ihr weckte, die ...
Nein. Sie konnte nicht darüber nachdenken. Es spielte keine Rolle, welche Gefühle Mr Grey in ihr weckte, weil Mr Grey nicht vorhatte, um ihre Hand anzuhalten. Und selbst wenn er es vorhätte, besäße er kaum die Mittel, tun ihre Familie zu unterstützen. Annabel gab normalerweise nichts auf derartigen Klatsch, aber mindestens zwölf der achtzehn Besucher, die sie an diesem Morgen ertragen hatte, hatten sie darauf hingewiesen, dass er von der Hand in den Mund lebte. Ganz zu schweigen von all den Leuten, die nach dem Zusammenstoß bei White's bei ihr vorbeigeschaut und ähnliches berichtet hatten.
Jeder schien eine andere Meinung zu Mr Grey zu haben, aber in einem Punkt waren sich alle einig: Er besaß keine Reichtümer. Oder eigentlich überhaupt kein Geld.
Und außerdem hatte er ihr ja gar keinen Antrag gemacht. Und hatte auch nicht die Absicht.
Schweren Herzens bog Annabel in die Brook Street ein und ließ Nettie von den mit pompösem Federschmuck garnierten Hüten schwatzen, die sie in einem Schaufenster in der Bond Street gesehen hatten. Sie war noch etwa sechs Häuser von Vickers House entfernt, als sie aus der anderen Richtung eine prächtige Kutsche kommen sah.
„Warten Sie", sagte sie und hob die Hand, um Nettie aufzuhalten.
Ihre Zofe sah sie misstrauisch an, blieb aber stehen. Und wurde still.
Voll Grauen beobachtete Annabel, wie sich Lord Newbury auf den Gehweg plumpsen ließ und die Treppe zum Haus hinaufging. Es war ziemlich offensichtlich, warum er hier war.
„Aua! Miss ..."
Annabel drehte sich zu Nettie um und erkannte, dass sie den Arm des bedauernswerten Mädchens wie in einem Schraubstock festgehalten hatte. „Tut mir leid", sagte sie gehetzt und ließ ihre Zofe rasch los, „aber ich kann nicht heimgehen. Noch nicht."
„Möchten Sie einen anderen Hut?" Nettie sah auf das Päckchen, das sie trug. „Da war noch der mit den Trauben, aber ich glaube, der war zu dunkel."
„Nein. Ich ... ich kann einfach nicht heimgehen. Noch nicht." Kopflos vor Panik nahm sie Nettie an der Hand und zog sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie legte erst dann eine Verschnaufpause ein, als sie außer Sichtweite von Vickers House waren.
„Was ist denn?", fragte Nettie keuchend.
„Bitte", flehte Annabel. „Bitte fragen Sie nicht." Sie sah sich um. Nettie und sie standen in einer Wohnstraße und konnten dort nicht den ganzen Nachmittag bleiben. „Ähm, wir gehen ..." Sie schluckte. Wohin konnten sie gehen? Zurück in die Bond Street wollte sie nicht. Sie war gerade erst dort gewesen, wenn sie jetzt schon wieder zurückkehrte, würde das bestimmt auffallen. „Wir besorgen uns etwas Süßes", sagte sie eine Spur zu laut. „Das wäre doch genau das Richtige. Haben Sie keinen Hunger? Mir knurrt der Magen. Ihnen nicht?"
Nettie sah sie an, als wäre sie übergeschnappt. Und vielleicht war sie das ja. Annabel wusste, was sie tun musste.
Sie wusste es seit über einer Woche. Bloß an diesem Nachmittag wollte sie es einfach noch nicht tun. War das denn zu viel verlangt?
„Kommen Sie", drängte Annabel. „In den Süßwarenladen. Ich kenne einen da drüben in der ..." Wo?
„In der Clifford Street?", riet Nettie.
„Ja. Ja, ich glaube, den meine ich." Annabel lief los, achtete kaum darauf, wohin sie ihre Füße setzte, versuchte die Tränen zurückzuhalten, die ihr in den Augen brannten. Sie musste sich zusammennehmen. So konnte sie kein Geschäft betreten, nicht einmal einen schlichten Süßwarenladen. Sie musste tief durchatmen, sich beruhigen, und dann ...
„Oh, Miss Winslow!"
Annabel erstarrte. Lieber Gott, sie wollte mit niemandem reden. Bitte nicht jetzt.
„Miss Winslow!"
Annabel holte tief Luft und drehte sich um. Vor ihr stand Lady Olivia Valentine und lächelte sie an. Sie übergab etwas ihrer Zofe und kam dann auf Annabel zu.
„Wie schön, Sie zu sehen", sagte Olivia strahlend. „Ich habe gehört... Ach, Miss Winslow, was ist denn los?"
„Nichts", schwindelte Annabel. „Ich bin nur ..."
„Aber natürlich ist irgendetwas", sagte Olivia
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