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Rendezvous mit Rama

Rendezvous mit Rama

Titel: Rendezvous mit Rama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke
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treffen. Steige ich die Leiter rauf oder runter?
    Dies war durchaus ein schwerwiegendes Problem. Sie befanden sich praktisch noch unter Null-Schwerkraft, und so konnte sich das Gehirn jedes beliebige Bezugssystem aussuchen. Durch einfache Willensanspannung konnte Mercer sich zu der Überzeugung bringen, dass er auf eine horizontale Fläche oder eine vertikale Wand hinauf oder über den Kamm einer steilen Klippe blicke. Nicht wenige Astronauten machten ernste psychische Störungen durch, wenn sie vor einer schwierigen Aufgabe das falsche Koordinatensystem wählten.
    Mercer war entschlossen, mit dem Kopf voran loszugehen, da jede andere Fortbewegungsweise umständlicher gewesen wäre; überdies konnte er so leichter sehen, was vor ihm lag. Auf den ersten paar hundert Metern würde er sich also vorstellen, dass er nach oben klettere; erst wenn der zunehmende
    Sog der Schwerkraft diese Illusion zerstören würde, würde er seine geistige Orientierung um hundertachtzig Grad verschieben.
    Er packte die erste Sprosse und zog sich sacht die Leiter entlang. Die Bewegung war so mühelos wie das Schwimmen im Meer - noch leichter sogar, weil es hier nicht den Rücksog des Wassers gab. Es war so leicht, dass man in Versuchung geraten konnte, zu schnell voranzugehen, doch Mercer hatte zu viel Erfahrung, als dass er in einer derartig neuen Situation etwas überstürzt hätte.
    Die Sprossen lagen gleichmäßig einen halben Meter auseinander, und während der ersten Phase seiner Kletteraktion übersprang Mercer jede zweite. Doch er zählte sie sorgfältig, und als er bei zweihundert angelangt war, begann er deutlich sein Gewicht zu spüren. Die Rotation von Rama begann sich bemerkbar zu machen.
    Bei Sprosse vierhundert schätzte er sein scheinbares Gewicht auf etwa fünf Kilo. Das war kein Problem, doch wurde es jetzt ein bisschen schwieriger, sich einzureden, dass er aufwärts klettere, da er doch kräftig nach oben gezerrt wurde.
    Sprosse fünfhundert erschien ihm als ein geeigneter Platz für eine Ruhepause. Er spürte, dass seine Armmuskeln auf die ungewohnte Anstrengung reagierten, auch wenn jetzt Rama die ganze Arbeit tat und er sich nur zu lenken brauchte.
    »Alles okay, Skipper«, berichtete er. »Haben gerade die Hälfte hinter uns. Joe, Will? Irgendwelche Probleme?«
    »Mir geht's gut - warum hältst du an?«, antwortete Joe Calvert.
    »Hier gleichfalls alles okay«, setzte Sergeant Myron hinzu. »Aber passt auf die Corioliskraft auf. Sie wird bald stärker werden.«
    Das hatte Mercer auch schon bemerkt. Wenn er die Sprossen losließ, trieb er deutlich nach rechts ab. Er wusste selbstverständlich ganz genau, dass dies nur eine Folge der Umdrehung Ramas war, doch es wirkte, als schubste ihn eine geheimnisvolle Kraft sanft von der Leiter fort.
    Möglicherweise war nun der Zeitpunkt gekommen, mit den Füßen voran weiterzugehen, jetzt, da >unten< allmählich wieder eine physische Bedeutung gewann. Er würde das Risiko einer kurzfristigen Desorientierung eingehen.
    »Achtung - ich dreh mich jetzt um.«
    Er klammerte sich an der Sprosse fest und drehte sich mithilfe seiner Arme um hundertachtzig Grad herum. Die Lampen seiner Gefährten blendeten ihn einen Moment. Weit über ihnen - und nun war das wirklich über ihnen - konnte er ein schwaches Glimmen längs des steilen Klippenkamms erkennen. Als Silhouetten hoben sich davor die Gestalten Commander Nortons und des Rettungstrupps ab, die ihm angespannt zusahen. Sie wirkten winzig und sehr weit entfernt. Er winkte ihnen zuversichtlich zu.
    Er löste seinen Griff und ließ die noch immer schwache Pseudoschwerkraft Ramas wirken. Der Fall von einer Sprosse zur nächsten dauerte über zwei Sekunden; auf der Erde würde ein Mensch in der gleichen Zeit dreißig Meter gefallen sein.
    Die Fallgeschwindigkeit war so ärgerlich gering, dass er die Geschichte ein wenig beschleunigte, indem er mit den Händen nachschob und über ein Dutzend Sprossen auf einmal hinwegglitt. Er bremste sich jeweils mit den Füßen ab, wenn er das Gefühl bekam, zu schnell abwärts zu gleiten.
    Bei Sprosse siebenhundert machte er erneut Halt und richtete den Strahl seiner Helmlampe nach unten. Wie er vorausberechnet hatte, befand sich der Fuß der Leiter nur noch fünfzig Meter unter ihm.
    Einige Minuten später waren sie bei der ersten Sprosse angelangt. Es war ein seltsames Gefühl, nach monatelangem Aufenthalt im Weltraum nun wieder aufrecht auf festem Grund zu stehen und den Boden gegen die Füße drücken

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