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Rendezvous mit Rama

Rendezvous mit Rama

Titel: Rendezvous mit Rama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke
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dass alle seine Leute gesichert vor ihm waren und im Abstand von zwanzig Metern die Leiter angingen. Von jetzt an würde es ein langsames, stetiges und äußerst langwieriges Hinauf hangeln werden. Als beste Technik hatte sich bewährt, wenn man den Kopf von Gedanken möglichst freihielt und die Sprossen zählte, während man sie hinter sich brachte: einhundert, zweihundert, dreihundert, vierhundert...
    Norton hatte gerade Sprosse zwölfhundertfünfzig erreicht, als er merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Licht, das von der vertikalen Fläche direkt vor seinen Augen reflektiert wurde, hatte eine veränderte, eine unrichtige Farbe - und es war viel zu hell.
    Commander Norton blieb nicht einmal genug Zeit, in seinem Aufstieg innezuhalten und seinen Leuten eine Warnung durchzugeben. Es passierte alles in Bruchteilen von Sekunden.
    In einer lautlosen Lichtexplosion brach über Rama die Dämmerung herein.

18 Dämmerung
    Das Licht war so grell, dass Norton eine ganze Minute lang die Augen zukneifen musste. Dann wagte er sie vorsichtig zu öffnen und blinzelte durch die halb geschlossenen Lider auf die Wand, die nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Er blinzelte mehrmals, wartete, bis die unfreiwilligen Tränen fortrollten, wandte sich dann langsam um und betrachtete die anbrechende Dämmerung.
    Er konnte den Anblick nur ein paar Sekunden lang aushalten, dann musste er die Augen wieder schließen. Es war nicht so sehr das grelle blendende Licht, das so unerträglich war - daran hätte er sich gewöhnen können -, sondern das Ehrfurchtgebietende und grandiose Schauspiel von Rama, dieser Welt, die nun zum ersten Mal als Ganzes sichtbar wurde.
    Norton hatte natürlich genau gewusst, womit er rechnen musste; trotzdem nahm ihm der Anblick die Sinne. Ein unkontrollierbares krampfartiges Zittern überfiel ihn, seine Finger krallten sich um die Sprossen der Leiter mit der verzweifelnden Brutalität eines Ertrinkenden, der einen Rettungsring umklammert. Die Muskeln seiner Unterarme verkrampften sich, gleichzeitig schien es, als wollten seine Beine - die durch das stundenlange Klettern bereits müde waren - den Halt verlieren. Ohne die geringe Schwerkraft wäre er wohl abgestürzt.
    Dann setzte blitzartig seine Erinnerung ein, was er in einem solchen Fall während seiner Ausbildung gelernt hatte, und er schaltete vorsichtshalber die erste Hilfsstufe gegen Panik ein. Er hielt die Augen weiter geschlossen und versuchte das überwältigende Schauspiel zu vergessen, das sich um ihn herum entfaltete. Er begann lang und tief zu atmen und seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, der die Ermüdungsgifte aus seinem Metabolismus vertreiben würde.
    Bald fühlte er sich besser. Allerdings öffnete er die Augen erst, als er eine zweite, bis zur rituellen Routine geübte Aktion durchgeführt hatte: Es kostete ihn eine ziemlich heftige Willensanstrengung, seine rechte Hand zu entkrampfen (er musste auf sie einreden wie auf ein störrisches Kind) - doch dann gelang es ihm, sie zu seinem Gürtel hinunter zu dirigieren, den Sicherungsgurt von seinem Anzug abzuhaken und an der nächsten Sprosse einzuklinken. Was immer jetzt geschehen mochte, er konnte nicht fallen.
    Norton atmete noch ein paarmal sehr tief ein, dann schaltete er (immer noch mit geschlossenen Augen) sein Funkgerät ein. Er hoffte, seine Stimme würde ruhig und sicher klingen, als er begann: »Hier der Befehlshaber. Sind alle okay?«
    Während er einen Namen nach dem andern nannte und in jedem Fall eine positive, wenn auch etwas zittrige Antwort erhielt, gewann er rasch wieder Zuversicht und Selbstkontrolle zurück. Alle seine Leute waren in Sicherheit und erwarteten von ihm, dass er ihnen sagte, was zu tun sei. Er war wieder der Mann, der die Anordnungen gab und die Verantwortung zu tragen hatte.
    »Lasst die Augen zu, bis ihr völlig sicher seid, dass ihr es aushalten könnt«, rief er. »Dieser Anblick ist - überwältigend. Wer glaubt, dass er es nicht mehr aushalten kann, soll, ohne zurückzuschauen, weiter klettern. Denkt daran, ihr seid bald in Null-Schwerkraft, also könnt ihr wohl kaum runterfallen.«
    Es war allerdings kaum nötig, perfekt ausgebildeten Raumfahrern etwas so Grundsätzliches klarzumachen, aber Norton selbst musste sich alle paar Stunden daran erinnern. Der Gedanke an die Null-Schwerkraft war eine Art von Talisman und beschützte ihn vor Schaden. Was seine Augen auch immer sehen und ihm einreden mochten, Rama würde ihn nicht

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