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Rendezvous mit Übermorgen

Rendezvous mit Übermorgen

Titel: Rendezvous mit Übermorgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke
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sie dann jeden Tag nach Schulschluss den Berghang hinunter ins flache Land und setzte sich an ihren Lieblingsbach. Und dort rauchte sie dann, still und heimlich, und es war ein einsamer Akt von Rebellion. In der trägen Stille solcher Nachmittage träumte sie sich fort - in eine Welt voller Schlösser und Prinzen, Millionen Meilen entfernt von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater.
    Diese Erinnerungen ließen in Francesca das unwiderstehliche Verlangen nach einer Zigarette aufkommen. Seit dem Start hatte sie brav ihre Nikotinpillen geschluckt, aber die konnten nur den bloßen körperlichen Aspekt ihrer Sucht befriedigen. Sie lachte über sich selbst, dann tastete sie sich in eine der Spezialtaschen ihres Fluganzugs vor. Dort hatte sie in einem Spezialbehälter drei Zigaretten versteckt, die darin frischgehalten wurden. Vor dem Start von der Erde hatte sie sich eingeredet, sie nehme die Zigaretten als »Notration für den Ernstfall« mit...
    In einem extraterrestrischen Raumfahrzeug eine Zigarette zu rauchen, das war fast noch blasphemischer als die heimliche Pafferei mit elf Jahren. Am liebsten hätte Francesca ein Triumphgeheul losgelassen, als sie jetzt den Kopf in den Nacken warf und den Rauch in die reine Rama-Luft blies. Dass sie dies tun konnte, gab ihr ein Gefühl der Entfesselung, der Freiheit. Und plötzlich war auch die Bedrohung in Gestalt der Nicole des Jardins nicht mehr ganz so schwerwiegend.
    Francesca zog an ihrer Zigarette. Und sie erinnerte sich, wie entsetzlich, wie schmerzlich allein dieses Mädchen damals gewesen war, das sich da in Orvieto den Hang hinunterschlich. Und auch dieses grässliche Geheimnis, das sie für immer tief in ihrem Herzen begraben hatte, für immer und ewig, drängte herauf. Sie hatte nie und zu niemandem je davon gesprochen, ganz gewiss nicht zu der eigenen Mutter, was ihr Stiefvater ... und sie dachte heute auch nur noch selten daran. Aber jetzt, hier, am Rand der Zylindersee, tauchten die Beklemmungen aus der Kindheit wieder scharf in der Erinnerung auf.
    Kurz nach meinem elften Geburtstag hat es angefangen , dachte sie und stürzte sich kopfüber in das kleine Leben zurück, das sie vor achtzehn Jahren gehabt hatte. 'Zuerst habe ich ja gar nicht begriffen, was der Saukerl wollte. Sie nahm wieder einen tiefen Zug ihrer Zigarette. Nicht mal als er anfing und mir grundlos immer Geschenke anbrachte.
    Er, das war der Direktor ihrer neuen Schule. Als Francesca ihre ersten umfassenden Eignungstests machte, hatte sie die höchste Quote in der Geschichte Orvietos erreicht. Sie schoss hoch über den Testrahmen hinaus, sie war ein Wunderkind, ein Genie. Vorher hatte er sie nie auch nur zur Kenntnis genommen. Ihre Mutter hatte er achtzehn Monate vorher geheiratet und ihr fast sofort die Zwillinge verpasst. Francesca war der Klotz am Bein, ein Maul mehr, das gefüttert werden musste, nichts weiter als ein ärgerliches Möbelstück, das ihre Mutter mit in die Ehe brachte.
    Ein paar Monate lang war er besonders nett zu mir. Dann fuhr Mamma für ein paar Tage zu Tante Carla auf Besuch. Die Erinnerungen brachen rasch über sie herein und schössen wie ein Sturzbach durch ihren Kopf. Sie erinnerte sich an den Weingeruch in seinem Atem, an den Schmerz und den schweißigen Körper auf ihr, an die Tränen, nachdem er aus dem Zimmer gegangen war.
    Der Albtraum hatte über ein Jahr gedauert. Immer wenn ihre Mutter nicht im Haus war, war er zu ihr gekommen, hatte sie festgehalten und mit Gewalt genommen. Bis dann eines Abends, als er sich gerade wieder anzog und in die andere Richtung schaute, Francesca ihn mit einem Baseballschläger aus Aluminium auf den Hinterkopf schlug. Blutend und bewusstlos stürzte er zu Boden. Sie schleppte ihn ins Wohnzimmer und ließ ihn dort liegen.
    Danach hat er mich nie wieder angefasst , dachte Francesca und drückte den Zigarettenstummel in der ramanischen Erde aus.
    Wir waren wie Fremde im selben Haus. Und ich verbrachte danach die meiste Zeit mit Roberto und seinen Freunden. Und wartete einfach auf meine Chance. Und als dann Carlo kam, war ich bereit.
    Im Sommer 2184 wurde Francesca vierzehn. Meist hing sie in der Nähe der Piazza Centrale in Orvieto herum. Ihr älterer Cousin Roberto hatte gerade die Prüfung als Touristenführer durch die Kathedrale dort bestanden. Der alte Duomo, die Hauptattraktion des Städtchens, war in verschiedenen Baustufen ab dem 14. Jahrhundert errichtet worden. Die Kirche war architektonisch und künstlerisch ein Meisterwerk. Die

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