Rendezvous mit Übermorgen
Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass wir beide sterben, ohne je wieder ein anderes menschliches Wesen zu Gesicht zu bekommen. Und wie denken Sie nun darüber? Wie passt Ihr Tod - oder im Grund eigentlich jeder beliebige Tod - in Ihr Gesamtschema?«
Nicole blickte ihn direkt an. Sie war vom Ton seiner Frage überrascht. Erfolglos mühte sie sich, seinen Gesichtsausdruck zu entziffern. »Ich fürchte mich nicht davor«, sagte sie vorsichtig, »wenn es das ist, was Sie meinen. Ich bin Ärztin, und ich habe oft über den Tod nachgedacht. Und da meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, war ich natürlich gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen.
Was mich persönlich angeht«, fuhr sie nach einer Pause fort, »weiß ich mit Bestimmtheit, dass ich gern leben möchte, bis Genevieve erwachsen ist - und ich vielleicht ihren Kindern noch eine Großmutter sein kann. Aber einfach nur so am Leben bleiben, das ist nicht das Wichtigste. Ein Leben muss seine ganz eigene Qualität besitzen, um es für uns wertvoll zu machen. Und um ihm diese Qualität zu geben, müssen wir zu einigen Risiken bereit sein ... Ich drücke mich wohl nicht sehr präzise aus, wie?«
»Nein.« Richard lächelte. »Aber mir gefallt Ihre allgemeine Richtung. Sie haben den Schlüsselbegriff genannt: Qualität... Haben Sie jemals an Selbstmord gedacht?«, setzte er schroff hinzu.
»Nein, nie«, antwortete Nicole kopfschüttelnd. »Niemals. Für mich hat es immer viel zu viel gegeben, wofür zu leben sich lohnte.« Er muss einen Grundfür diese Frage haben , dachte sie. Und nach einer kurzen Pause fragte sie: »Und Sie? Haben Sie in der schmerzlichen Periode mit Ihrem Vater je daran gedacht?«
»Seltsamerweise nein. Wenn mein Vater mich prügelte, hat das nie meine Lust auf das Leben aus mir herausgeprügelt. Da gab es immer so viel zu lernen. Und außerdem wusste ich ja, dass ich ihn irgendwann überwinden und ganz ich selber sein würde.« Er schwieg lange, ehe er weitersprach. »Aber es gab in meinem Leben einen Abschnitt, wo ich ernsthaft an Selbstmord gedacht habe. Damals war der Schmerz und der Zorn so groß, dass ich dachte, ich kann sie einfach nicht mehr ertragen.«
Wieder schwieg er und schien völlig in Gedanken versunken. Nicole wartete geduldig. Schließlich hakte sie sich bei ihm ein.
»Schön, mein Freund«, sagte sie, »erzählen Sie mir irgendwann davon, ja? Wir sind es beide nicht gewohnt, unsere tiefsten Geheimnisse mit anderen zu teilen. Vielleicht lernen wir es mit der Zeit noch. Und ich mache den Anfang, indem ich Ihnen nämlich sage, warum ich glaube, dass wir hier nicht sterben werden, und warum ich glaube, wir sollten als Nächstes das Gebiet um die östliche Plaza erforschen.«
Nicole hatte nie einem Menschen - nicht einmal ihrem Vater - etwas von ihren Erlebnissen bei dem »Trip« ihrer Poro-Prüfung erzählt. Jetzt berichtete sie Richard frei und offen nicht nur, was ihr als siebenjährigem Mädchen bei der Poro-Zeremonie widerfahren war, sondern auch von dem Besuch Omehs in ihrem Hotelzimmer in Rom, von den Senoufo-Weissagungen über die »Frau ohne Gefährten«, die ihre Kinder »zwischen den Sternen« verstreut, und in allen Einzelheiten die Vision, die sie auf dem Grund der Grube erlebt hatte, nachdem sie den Flakon ausgetrunken hatte.
Richard war sprachlos. Die ganzen Versatzstücke ihrer Geschichten waren für seinen mathematischen Verstand dermaßen fremdartig, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Er starrte Nicole scheu und verwirrt an. Schließlich wurde ihm sein Schweigen peinlich, und er begann: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll...«
Nicole legte ihm den Finger auf den Mund. »Sie brauchen gar nichts zu sagen. Ich lese Ihnen Ihre Reaktion im Gesicht ab. Wir können morgen darüber sprechen, nachdem Sie Zeit zum Nachdenken gehabt haben.«
Dann gähnte Nicole und schaute auf ihre Uhr. Sie holte ihren Schlafsack heraus und rollte ihn aus. »Ich bin hundemüde«, sagte sie zu Richard. »Es gibt nichts Besseres als ein bisschen Schock, um sofort Schlafbedürfnis auszulösen. Also, bis in vier Stunden.«
Richard war ungeduldig. »Wir suchen nun schon seit anderthalb Stunden. Schauen Sie sich doch die Karte da an. Es gibt im Umkreis von fünfhundert Metern um das Plazazentrum keinen Punkt, den wir nicht mindestens zweimal abgegrast hätten.«
»Dann machen wir was falsch«, erwiderte Nicole. »In meiner Vision gab es drei Wärmequellen.« Richard runzelte die Stirn. »Oder wenn Ihnen das
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