Rendezvous mit Übermorgen
erschien.
»Warten Sie noch, fassen Sie's noch nicht an!«, warnte Richard, als Nicole nähertrat, um das Ding zu betrachten. »Da! Schauen Sie mal!« Er richtete die Lampe in das Dunkel hinter dem Würfel. »Hinter diesen Wänden liegt ein ausgedehntes Tunnelsystem«, sagte er, »und das muss zu Fabrikationsstätten führen, die dermaßen fortschrittlich sind, dass wir sie nicht mal als solche erkennen würden. Man stelle sich das nur mal vor! Die sind sogar in der Lage, Güter auf Order zu produzieren !«
Nicole begann zu verstehen, warum Richard derart aus dem Häuschen war. »Damit haben wir jetzt die Möglichkeit in der Hand, unser weiteres Geschick in einem geringen Maß selbst zu bestimmen«, fuhr er fort. »Wenn ich den Code schnell genug knacken kann, sollte es uns möglich sein, Nahrung anzufordern, vielleicht sogar das nötige Material, um ein Boot zu bauen.«
»Ohne trommelfellzerfetzende Motoren, hoffe ich«, bemerkte Nicole sarkastisch.
»Keine Motoren«, gestand Richard ihr zu. Dann aß er den Rest seiner Melonenportion auf und wandte sich wieder dem Keyboard zu.
Nicole begann sich Sorgen zu machen. Während eines ganzen Rama-Tages war ihm nur ein einziger neuer Durchbruch gelungen. Nach achtunddreißig Arbeitsstunden (er hatte insgesamt nur acht Stunden geschlafen) hatte er nur einen neuen Stoff geschafft. Er konnte jetzt »leichte« schwarze Objekte ordern, wie diesen ersten Ball, dessen spezifisches Gewicht etwa dem von Balsaholz entsprach, oder »schwere« schwarze Gegenstände, deren Dichte etwa der von Eiche oder Pinie entsprach. Er arbeitete bis zur Erschöpfung, und er konnte - oder wollte - nicht, dass Nicole ihm einen Teil der Last abnahm.
Und wenn seine erste Entdeckung ein bloßer Glückstreffer wäre" Nicole kletterte die Treppe hinauf, um ihren Spaziergang im Morgengrauen zu machen. Oder wenn das System eben nichts außer zwei Sorten schwarzer Objekte herstellen kann ? Nicole kam nicht von einer gewissen Besorgnis wegen der vergeudeten Zeit los: Es blieben nur noch sechzehn Tage bis zu dem Rendezvous zwischen Erde und Rama. Und von einem Rettungstrupp war weit und breit nichts zu sehen. Im Hintergrund ihrer Gedanken nagte der Argwohn, dass man Richard und sie ganz einfach abgeschrieben haben könnte.
Am Abend zuvor hatte sie versucht, mit Richard über ihre Pläne zu sprechen; aber er war einfach zu erschöpft gewesen. Auf ihre beiläufige Bemerkung, sie sei doch sehr beunruhigt, war er überhaupt nicht eingegangen. Und nachdem sie dann sämtliche ihnen verbleibende Möglichkeiten gründlich durchleuchtet hatte und ihn nach seiner Meinung dazu fragte, was sie unternehmen sollten, musste sie feststellen, dass er eingeschlafen war. Und als sie selbst nach einem kurzen Schlummer wieder erwachte, arbeitete Richard schon wieder am Keyboard und ließ sich weder durch das Frühstück noch den Versuch eines Gesprächs ablenken. Als Nicole zu ihrem frühmorgendlichen Training aufbrach, stolperte sie fast über den wachsenden Haufen von schwarzen Objekten auf dem Boden der Weißen Kammer.
Sie fühlte sich sehr verlassen. Die verflossenen fünfzig Stunden hatte sie fast ganz auf sich gestellt verbracht, und sie waren für sie sehr langsam vergangen. Als einziger lustbringender Fluchtmechanismus war ihr geblieben, in den fünf Büchern zu lesen, deren Text sie in ihrem Computer gespeichert hatte. Das eine war ihre Medizinische Enzyklopädie, ein Muss-Buch. Die übrigen dienten alle der »Unterhaltung«. Ich möchte wetten, Richard hat seine ganze private Speicherkapazität mit Shakespeare vollgepackt , dachte sie, als sie sich auf der Mauerkrone niedersetzte und auf die Zylindrische See hinausschaute. Durch den Nebeldunst und die Wolken konnte sie mit ihrem Fernglas die Nördliche »Schüssel« fast nicht mehr ausmachen, durch die sie nach Rama gekommen waren.
Sie hatte zwei der Romane ihres Vaters gespeichert. Ihr persönliches Lieblingsbuch war Königin für alle Zeit , in dem die Jugendjahre der Eleanor d'Aquitaine, beginnend mit ihrem Heranwachsen am herzoglichen Hof in Poitiers, geschildert wurden. Die Romanhandlung begleitete Eleanor dann durch die Ehe mit Ludwig Capet von Frankreich, auf ihrem Kreuzzug ins Heilige Land und bei ihrem spektakulären Appell an Papst Eugenias, ihre Ehe für ungültig zu erklären. Der Höhepunkt des Romans war Eleanors kirchlich abgesegnete Scheidung von Louis und die Verlobung mit dem jungen und aufregenden Henry Plantagenet.
Der andere Roman von Pierre
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