Rendezvous mit Übermorgen
überstanden, falls es da Fehlermöglichkeiten gegeben hätte. Also musste es da irgendwo ein menschliches Fehlverhalten gegeben haben. Entweder Unachtsamkeit - hatten Janos und sie in der Hast übersehen, einen entscheidenden Fehlerverhütungsparameter einzugeben? -, oder es war ein Unfall während jener chaotischen Sekunden nach der unvorhersehbaren Drehung. Die ergebnislose Suche nach einer Erklärung und ihre nahezu totale körperliche Erschöpfung ließen sie schließlich tief deprimiert einschlafen. Ein Teil der Gleichung jedenfalls war für sie sehr klar: Ein Mann war gestorben, und sie war dafür verantwortlich.
18 Post mortem
Wie nicht anders zu erwarten, verlief der Tag nach dem Tod General Borzows recht hektisch. Seitens der ISA erfolgten erweiterte Nachforschungen bezüglich des »Zwischenfalls«, und die Mehrzahl der Kosmonauten wurde weiteren langwierigen Kreuzverhören unterzogen. Man vernahm Nicole über ihren Zustand der Nüchternheit bei der Operation. Einige Fragen waren widerwärtig, und Nicole, die sich mühte, ihre Energie für die eigene Untersuchung der Tragödie zusammenzuhalten, verlor zweimal die Geduld.
»Also, hören Sie mal«, rief sie an einem Punkt, »ich habe Ihnen jetzt bereits viermal erklärt, dass ich zwei Glas Wein und ein Gläschen Wodka getrunken habe - drei Stunden vor der Operation. Ich habe Ihnen erklärt, ich hätte bestimmt keinen Alkohol zu mir genommen, wenn ich gewusst hätte, dass ich operieren muss. Ich habe sogar zugegeben, dass es richtig gewesen wäre - im Rückblick dass einer der zwei Bio-Offiziere vollkommen nüchtern hätte bleiben sollen. Aber hinterher ist man immer klüger. Ich wiederhole, was ich bereits ausgesagt habe: Weder mein Urteilsvermögen noch meine körperliche Kapazität waren zum Zeitpunkt der Operation in irgendeiner Weise beeinträchtigt.«
Wieder in ihrem Raum konzentrierte sich Nicole auf das Problem, warum der Roboter den chirurgischen Eingriff fortgesetzt hatte, wo doch die eingebaute Fehlerverhütung sämtliche Bewegungen hätte stoppen müssen. Laut der Bedienungsanweisung für RoSur war offenkundig, dass mindestens zwei unabhängige Sensorsysteme Fehlerwarnungen an den Zentralprozessor im Roboterchirurgen hätten senden müssen. Das Akzelerometersystem hätte die Information an die Zentrale weitergeben müssen, dass die Umfeldbedingungen wegen der unvorhergesehenen lateralen Kräfte in Wirkung die annehmbare Toleranzgrenze überschritten habe. Und die Stereokameras hätten die Nachricht übermitteln müssen, dass die Bildobservation nicht mit den vorgesehenen Bildinhalten übereinstimme. Aus irgendeinem Grund aber konnte keiner der beiden Sensorenapparate erfolgreich den Fortgang der Operation unterbrechen. Was also war geschehen?
Nicole benötigte fast fünf Stunden, bevor sie die Möglichkeit eines ernsten Versagens sowohl der Soft- wie der Hardware im RoSur-System selbst ausschließen konnte. Sie konnte nachweisen, dass die eingegebene Software und Datenbasis korrekt einen Codevergleich mit der standardisierten Bewertungsvorgabe der im Vorstartstadium so umfänglich getesteten Software durchgeführt hatte. Sie untersuchte auch getrennt die Stereobilder und die Beschleunigungstelemetrie der paar Sekunden direkt nach dem Rütteln des Raumschiffs. Die Daten waren säuberlich an den Zentralprozessor weitergeleitet worden und hätten den Abbruch der Operationssequenz auslösen müssen. Aber das geschah nicht. Warum? Die einzige Erklärung war, dass zwischen der Eingabe und der Durchführung der Appendektomie die Software durch Manualorder verändert worden war.
Hier war Nicole nicht mehr kompetent. Ihr Wissen war an seine Grenze gestoßen, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass der Fehler nicht bei der eingegebenen Software liegen konnte. Um genau zu bestimmen, ob und wann Codes und Parameter nach der Eingabe in RoSur möglicherweise verändert wurden, bedurfte es einer Person, die Maschinensprache lesen und sorgfältig die Milliarden von Datenbits abfragen konnte, die im Verlauf der ganzen Prozedur gespeichert worden waren. Nicole war in ihrer Nachforschungsbemühung an einem toten Punkt angelangt, bis sie jemand fand, der ihr da weiterhelfen konnte. Vielleicht wäre es besser, ich geb‘ auf, sagte eine innere Stimme. Aber wie könntest du das?, sagte eine andere Stimme. Ehe du nicht Gewissheit über Borzows Todesursache hast ? Und natürlich lag dem der verzweifelte Wunsch zugrunde, ganz sicher eine Mitschuld ihrerseits
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